http://www.n0name.de/3000/so0405.html

So., 4. Mai 3000

unterstellt man ein gewisses wissenschaftlich-kulturtheoretisches ueberhistorisches Gedaechtnis kann man fragen: Wann Bacons technoider Rationalismus ( > Fr., 2. Mai 3000) bei Futuristen umschlaegt ... in WAS? -> internalisierte Phantasmen? -> Duerrenmatt's _Die Physiker_ [1], oder ist es Bergson's "elan vital" ?

_Die Physiker_ agieren wie klischeesierte Individuen im ~ Wahnsinn der Veruecktheiten ihres gemeinsamen Phantasmas, naemlich Physiker zu sein, Physiker sein zu sollen, Physiker sein zu muessen - den Physiker zu spielen. Der Wahnsinn ist jedoch ihr scheinbar bewuszt gewaehlter boeser Zirkel, der sie sozial ver- und entrueckt und in eine Heilanstalt de-plaziert, in der sie ein Versteckspiel spielen. Mit der Pointe, dass deren Leiterin ihr fachliches Wissen ohne deren Wissen von der Intrige kapitalistisch ausbeutet. Ihr gespielter Wahnsinn - den die Physiker selbstanklaegerisch entwickeln, um die Gesellschaft/die Welt vor dem zerstoererischen, prometheischen Wissen (die Atombombe, eine goettliche Eingebung), das in in ihnen gespeichert ist, zu bewahren, und um das Wissen vor der Welt zu bewahren - ist ihre Falle. Ihr negativer Futurismus, ein Abgesang. Das Techno-Wissen der Physiker ist nicht neutral, darum muss es neutralisiert werden.

Die Vortizisten unter den Physikern der Industrialisierung wuerden das mit dem Individuum nicht soweit kommen lassen. Es ist Bergson's "elan vital" und Nietzsche's "Subjekt als Vielfalt", oder das Viele des Subjekts. Das *Viele* des Subjekts erinnert an Thomas Hobbes' "Leviathan", dessen Vielgestalt in der Zielorientierung der Bildung EINER politischen Gestalt (dem Staatskoerper) auftritt.

leviathan-auschntt.gif
Titelblatt von Thomas Hobbes' _Leviathan_. London, 1651. Ausschnitt.

Dieses "Viele" ist nicht das Eine und nicht das Individuum, das Verindividuierbarte, sondern eine Groszorganisation von zellengleichen Einheiten, die sich wie eine Guerilla verteilen, sich aber nach der Revolution zum Staat, dem Mittelpunkt Vortex (Wirbel oder Strudel) hierarchisch versammeln, unter dem Kopf des Herrschers. Sie alle sind Koerper der herschenden Macht . Der vortizistische Strudel, in dem sich alles bewegt, ist eine Paraphrase der in den 1910er Jahren einfluszreichen Metaphysik des Futuristen Henri Bergson [2], die auch die italienischen Futuristen uebersetzt und gelesen haben [3]. Waehrend die #Futuristen# im Anfang der Industrialisierung befindlichen Italien, im Neo-Symbolismus ihres Maschinenkults an Verbrennungsmotoren denken und unter dem Druck einer Enge der Traditionen und Muster in euphorischen Befreiungschlaegen, analog zur Funktionsweise des Automotors, nach Auszen zur #zersplitternden Explosion# (positiver Krieg) bringen wollen (Cronenbergs Film _Crash_ misslingt dieser Punkt, indem der Regisseur alles auf das woertliche Verhaeltnis von Fleisch plus Maschine setzt), ziehen die #Vortizisten# im hochindustrialisierten England alle Teile der #Diversifikation# immer schon #zu einer Implosion# (negativer Krieg) zusammen, der nur noch mit einer synthetisierenden Reaktion der Aneignung von Rhythmen und Ablaeufen zu begegnen ist. Beide _Bewegungen_ dieser selbsternannten Bewegungen sind metaphernreiche, pointierende, punktuelle. Die Zersplitterung des dezentrierten Subjekts wird von den Vortiszisten (wieder?) im Patchwork zusammengefuegt. Ein so gewonnenes "kuenstliches Tier" Mensch, wird zum unmittelbaren Teil des Koerpers, dieser materiell im Stroemen der dynamischen Allheits-Bewegung inhaerent verbundenen Gemeinschaft, der Oeffentlichkeit, des Sozius, der "Netzwerkgesellschaft"? (Castells). > Induction

expl.gif

impl.gif
> Scott McCloud's Atomspaltung

"Obwohl die angehenden Vortizisten durch den Futuris-
mus zweifellos entscheidende Impulse erhalten haben,
stellen ihr Programm und die idealtypische Formgestalt
in ihren Bildern und Skulpturen doch geradezu die
Umkehrung des #universellen Dynamismus# der Futuristen
dar. #Die futuristische Explosion verkehrt sich zur Implo-
sion. Der umgekehrte futuristische Wirbel entpuppt
sich als Umstülpung seiner aktivistisch auf die Umwelt
zielenden Exzentrik ins Ich. Ein Ich, das von Pound und
Lewis letztlich mit dem Vortex gleichgesetzt wird.#

Die Bewegung und ihre rhythmische Gliederung
sind im Futurismus wie im Vortizismus gleichermaßen
Voraussetzung und Ziel der Bildorganisation. #Der ent-
scheidende Unterschied zwischen beiden Richtungen
liegt in ihrer gegensätzlichen Auffassung dieser Bewe-
gung. Die Futuristen verstehen sie als Progression,
deren sprunghaft erhöhte Geschwindigkeit im zwan-
zigsten Jahrhundert die traditionellen Schranken zwi-
schen Körper und Umraum, Materie und Geist, Subjekt
und Objekt niedergerissen hat. Pound, Lewis und die
anderen Vortizisten hingegen nehmen diese eklatante
Beschleunigung der Fortbewegung und fast aller
Lebensvollzüge als gegeben und für die Kunst wenig
spektakulär hin, da die englische Industrienation sich
schon längst an die innere und äußere Beschleuni-
gung hat gewöhnen können und mit ihr umzugehen
lernte.#

31


Das zweite Manifest des Vortizismus trägt diese
Vorreiterrolle Englands und die abgeklärte Haltung
der englischen Künstler gegenüber der modernen
technischen Zivilisation mit ihren beschleunigten Le-
bensrhythmen zur Schau [...].
Diese moderne Lebensweise hat in ihrem Ur-
sprungsland England jedoch nicht automatisch zu
einer neuen, ihr entsprechenden Kunstform geführt,
wie der nachfolgende Programmpunkt selbstkritisch zu
bedenken gibt: "Aber, beschäftigt mit diesem LEBENS-
KAMPF, hat England zu allerletzt ein Bewußtsein für
die Kunst entwickelt, die ein Organismus für diese neue
Ordnung und den Willen des Menschen sein soll."[...]
Das neue, der technischen Zivilisation entspre-
chende Kunstwerk muß, hier wird es noch einmal be-
tont, innerlich straff organisiert sein, wie ein Organis-
mus. In der Kunst muß derselbe sachlich unsentimen-
tale und neue Formen schaffende Geist herrschen, der
auch die #industrielle Revolution# in Gang gesetzt und
durchgeführt hat. #Die italienischen Futuristen hingegen
werden von den Vortizisten als sentimentale Romanti-
ker angesehen, weil sie die technisierte und beschleu-
nigte Welt nur reaktiv nachempfinden, so wie die
romantischen Dichter und Maler die Natur nachemp-
funden haben, anstatt sie aktiv umzugestalten.#
"Die
Lateiner z. B. sind gegenwärtig mit ihrer 'Entdeckung'
des Sports, ihrem futuristischen Schwärmen für
Maschinen, Flugzeuge, etc., die romantischsten und
sentimentalsten 'Modernen', die sich überhaupt finden
lassen."[...]


Intensität

Der Organismus des vortizistischen Kunstwerks, den
das Manifest fordert, entsteht nicht durch Nachemp-
finden und Wiedergabe beschleunigter Fortbewegung
von Objekten im Raum, sondern durch Akte der Form
Verwandlung. Transformation. anstatt Progression.
Pound hat diese Umwandlung am eigenen Leib
erfahren. "Was haben diese vortizistischen Künstler für
mich getan?" fragt er sich und den Leser. Er gibt sich
selbst die Antwort: "Sie haben meinen Sinn für Formen
geweckt, sie haben mir 'einen neuen Sinn für Formen
gegeben' (...) All das bedeutet neues Leben, bietet
neues Aroma, neuen Eifer wach zu bleiben."[...] Wie
Pound uns wissen läßt, gelingt diese Stärkung der
Wahrnehmung und die dadurch vermittelte Intensivie-
rung des Lebensgefühls nur Kunstwerken mit höchster
Intensität. "#Der Vortex ist der Punkt maximaler Energie.
Jedes bedeutende Kunstwerk ist eine Energie pro-
duzierende Maschine.#
[...] "

32"

in: Karin Orchard (Hg.) _BLAST: Vortizismus - die erste Avantgarde in England 1914 - 1918_. Hannover: Sprengel Museum Hannover, 1996. S. 31/32 .


In einer neo-futuristischen Kaffeemaschine kommt alles wieder auf die individuelle Maschine zurueck, deren Auto-Produktion jenseits menschlicher Anstrengungen liege, obwohl der Konsument ja weisz, dass es nicht so ist. Ein banaler Automat:


Krups Nespresso. Werbeplakat. Digitalfoto. Berlin, Dezember 2002.
_____
[1] Friedrich Duerrenmatt. _Die Physiker - Eine Komoedie in zwei Akten_. Zuerich. Arche, 1962.
[2] Karin Orchard. " 'Ein Lachen wie eine Bombe': Geschichte und Ideen der Vortizisten." Karin Orchard (Hg.) _BLAST: Vortizismus - die erste Avantgarde in England 1914 - 1918_. Hannover: Sprengel Museum Hannover, 1996. S. 14 .
[2] Hubertus Gaszner. "Der Vortex - Intensitaet als Entschleunigung". in: Karin Orchard (Hg.) _BLAST: Vortizismus - die erste Avantgarde in England 1914 - 1918_. Hannover: Sprengel Museum Hannover, 1996. S. 24 .
[3] Francesca Talpo. "Der Futurismus und Henri Bergsons Philosophie der Intuition". in: Norbert Nobis. (Hg.) _Der Laerm der Strasse: Italienischer Futurismus 1909-1918_. Hannover: Sprengel Mueeum Hannover, 2001. S. 61 .


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Last modified: So., 09.05.2004 17:56