http://www.n0name.de/3000/mo2605.html

Mo., 26. Mai 3000

Die Institution der Medien-Archeologie graebt fossile Ueberraschungseier aus ur-utopischen Territorien aus, und sieht infantil dort Portale, wo es sein Refugium als modernen Mythos verortet.

"CYBERTOP verteidigt das Portal der Fantasie. Cybertop ist die mutigste Cybermaus im Internet. Gemeinsam mit seinen Cyberfreunden verteidigt er DAS PORTAL DER FANTASIE gegen die boesen Cattiviren. [...]" Werbe- und Anleitungsprospekt Ferrero Kinder Ueberraschung (Ueberraschungs-Ei), Maerz 2003.

#Portale sind die Metapher fuer 'oeffentlich rechtliche Internetseiten' mit Sammelinformation und allgemeiner Zugangsberechtigung fuer Nutzer, Ports, sind Dateninputzugaenge der PCs ---#

#Zielinski's These: "offene Laboratorien" (Zielinski S. 321) / »Differenz-Refugium« Kunst, das "souveraene Gebiet der Poesie" (294) ... als Zuflucht.#

Siegfried Zielinski (Z) 'verteidigt' in seinen Schlussthesen (-> siehe unten auf dieser Webpage) der _Archaeologie der Medien_ den kuenstlerischen Standpunkt, die kuenstlerische Haltung, die kuenstlerische Praxis - ein Amalgam aus Diskurs, Weltanschauung und Methode, das eine bestimmte gesellschaftliche Ausnahmestellung kodieren soll.

Wie verteidigt er kuenstlerische Praxis, und vor was verteidigt er sie? Er spricht von "magischer Phantasie" (294) und einer magischen, "alchemistischen" (324) Haltung Technik gegenueber (292). Magie und Mythos, so die erste Vermutung, wird als Strategie der Komplexitaetsreduktion der "Neuen Unuebersichtlichkeit" (Habermas 1985) entgegengestellt. Aber was ist unuebersichtlich, was soll durch Strategie 'bewaeltigt' werden und was hat Kino damit zu tun? Magie der Animation.

~ Seine mehrmalige Bezugnahme zum Kino, der "Phantasiemaschine", wie er sie nennt, ist unuebersehbar. Er verwendet Kino, das Konvergenzmedium des 20. Jahrhunderts, das Bild, Ton und Theater zu einer Gesamtdynamik verbindet, als Referenz fuer eine seit den 1980er-90er Jahren anstehende Uebersteigung der Moeglichkeitsbedingungen der Perzeptionstechniken; Kino wird mit digitalen Medien zu "_expanded cinema_", an dessen Maszstab sogar die Immersions-Qualitaeten des World Wide Web gemessen werden - eine nahezu reduktionistisch visualistische analytische Position, die er spaeter zugunsten auszeninstitutionalisierter Vernetzungsmodelle abschwaecht bzw. darin ein weiteres kritisches kuenstlerisches Potenzial erkennt - denn Virtumedien gelten ihm als Laboratorien. (314) Diese Sandkastenlogik (sandbox, testbed) wird spaeter zum zentralen Moment.

Fuer seine Dialektik einer Oekonomie der Praxis der technischen Medien von Konkurrenz und Kooperation, stellt Z die Entwicklung dieser industriellen (alten) und post-industriellen (neuen) Medien und die in die genetische Linie der jeweils avanciertesten bildegebenden Verfahren (Kino, TV, Internet), und nicht, wie das Kittler tut, in die genetische Linie der textgebenden Verfahren (Aufschreibesysteme): "Einer dem Paradigma der Produktivitaet verpflichteten Oekonomie der Zurichtung, die zunaechst im Projekt des industriellen Kinos und Fernsehens und vorlaeufig im post-industriellen Phaenomen des _Internets_ muendete, steht eine Oekonomie der Freundschaft gegenueber. Die erste dient der Effektivierung von Systemen, ihrem Schutz oder auch dem Angriff gegen andere konkurrierende Systeme. Die zweite verhaelt sich gegenueber der ersten subversiv und ist luxurioes. Sie bedarf keiner Legitimation, wie das Vergnuegen und die Kunst keine solche benoetigen. Sie entfaltet sich, oder es gibt sie nicht. Sie existiert in und neben der hegemonialen Oekonomie." (312)
Damit hat er die "Oekonomie der Freundschaft" als Das Andere, oder Das Auszen einer allumfassenden kapitalistischen Oekonomie definiert. Zu fragen waere, was er mit einer dem "Paradigma der Produktivitaet verpflichteten Oekonomie" meint und was seine These der a-produktiven, luxurioesen "Oekonomie der Freundschaft" fuer die Medien und strategisch fuer die Szene der Medienkunstproduzenten bedeutet.

Habermas diagnostiziert 1984 katastrophisch eine allgemeine Abkehr utopisch-historischen Denkens, die Verbindung aus Geschichtsbewusztsein und utopischer Perspektive sei in der Krise. Die globalgesellschaftliche Unuebersichtlichkeit entstamme einer ueberkomplexen Entwicklung sozialer Problemlagen, denen zum historischen Zeitpunkt blosze Reaktion folge, nicht aber zukunftsgewandte Reflexion und geschichtlich geschulte Vorstellung. (Habermas S. 143)

Wenn Z dem "Kulturproduzenten" einen magischen Bezug zu technischen Medien nahelegt, dann ruft er damit ein Klischees auf, die die "Van-Gogh-Rolle" und Ausnahmestellung des Kuenstlers in der buergerlichen Gesellschaft nur zu genau bestimmen: den Schamanen, den Irren, den Leidenden, den Zauberer. Der Kuenstler, die solitaere Figur, ergreift die Initiative in Medienwelten, deren "untergruendige Energiestraenge" (Zielinski 294) nur von diesem schamanistisch leidenden irren Zauberer, der als hybride Figur auch Techniker ist, er-gruendet werden koennen, um sie fuer die "Umgestaltung der Wirklichkeit" (295) nutzbar zu machen. Im Rueckgriff auf Cassirer's Technikphilosophie (295) sieht Z die Magie der Kunst als Moeglichkeit der Heterogenisierung von experimentellen, zunaechst zweckfreien Produktionsbedingungen, ihren Zustaenden, kurz den Produktionsverhaeltnissen. Der *Bedarf* strategischer Auslotung von Heterogenisierung setzt *bestehende Verhaeltnisse* voraus, *die ueberschritten werden sollen*: homogene Zusammenhaenge. Z geht offenbar von homogenisierten Produktionsverhaeltnissen aus, welches sich zum "Paradigma der Produktivitaet verpflichteten Oekonomie der Zurichtung" der Rentabilitaet verdichten laesst, und dem kuenstlerische Praxis etwas entgegenzusetzen habe. (vgl. S. 312 und 326)

Sein Favorit bei der Entwicklung kuenstlerischer Programme, als Alternative zur von homogenisierender Technopolitik (298) hergestellten Rentabilitaet, ist die Differenz, die sich in programmierten Fehlermeldungen und "satirische[n] Verschiebungen" (299) ablesen lasse. Diese "Stoerung des Systems" bei seiner gleichzeitigen Erhaltung ist ein Motiv des klassischen Techno. Stoergerausche werden im Training veraenderter Hoergewohnheiten zu aesthetisierbaren Artefakten bis sie sich innerhalb eines neuen Genre-Standards als "Sound" etabliert haben.
Die Funktion des programmierten Fehlers besteht darin, Korrekturen als Fehler auszugeben, bzw. umgekehrt, die Fehler, die sich gegen eine linare Nutzung des Mediums stellen, werden zur Korrektur der bestehenden wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Paradigmas der Kenntnis von Technik als der einer funktionsgebundenen, instrumentalen Technik. Dysfunktion bringt Technik als Funktion ins Bewusztsein, was dann fuer "Innovationen" sorgt. (296) Innovation liegt letztlich wieder in der Linie mit dem »Industriell-Kuenstlerischen Komplex«: "Kunst faengt da an, [...] wo die Industrie aufhoert. [...] Personalunion [...] Kuenstler und Software-Erneuerer [...]". (Juergen Claus. "Nach dem Kino: Karslruhe: 'Future Cinema' im ZKM". in: Kunstzeitung Januar 2003) > Do., 29. Mai 3000

Zusaetzlich geografiert Z die alternative oekonomische Praxis und plaediert dafuer, Stellen in szenischen Peripherien an die Diskurse anzuschlieszen (-> Kasten S. 299 und 302), die er im Osten geografisch verortet. Dort liegt nach Z ein dezentalistisches Potential zur Entwicklung zentrumkritischer Kunstproduktion.

Kritisch an der "Oekonomie der Freundschaft", die nicht nur in sondern auch neben der hegemonialen Oekonomie bestehe, ist, dasz diese sog. Geschenkoekonomie, auf die Z anspielt, an der Tatsache der Oekonomie der bestehenden Produktion des Mehrwert, die ja ebenfalls fuer die Produktion "extrem fluechtiger Produkte" (302) und Dienstleistungen gilt, nichts aendert. Die Ideen des Potlatsch, wie sie in Peer-to-peer Netzwerken (#www.kazaa.com (2003), das fruehe napster (2000), usw.#) wiederentdeckt werden, uebersehen die Tatsache der basalen Anbindung ihrer Hintergrundverhaeltnisse an die kapitalistische Oekonomie. Sie sind nicht mehr als ein Spielfeld, ein digitalisierter Flomarkt und Schwarzmarkt, geduldete oder illegale Maerkte, die als "informelle Oekonomie" an die 'formelle Oekonomie' gebunden bleiben. Einfach, weil Produkte und Arbeitsleistung, die innerhalb dieser Felder auftreten, der Arbeitsfremdverwaltung verhaftet bleiben und der Mehrwert in andere Felder abflieszt. Die Syndikalisierung, wie sie Z vorschlaegt, (313) kann nur eine Autonomie-Insel sein, deren Auszenpolitik mit der allgemeinen gekoppelt ist. Diese Insellage nimmt er sogar dankend an, wenn er sagt die "Oekonomie der Freundschaft besitzt[e] keine Verallgemeinerungsfaehigkeit"; ihr utopischer Gehalt wird also von ihm selbst auf die Funktionen der Tauschboerse und des Privaten zurueckgestutzt.

Z sieht im selbstbestimmten Verfuegen ueber Zeit einer weiteren Ansatz und verwechselt den Kairos, verstanden als die individuelle Kontrolle von Zeit mit der Kontrolle des ueberindividuellen Wirtschaftskreislaufs. Trotz einem in den Text von ihm hineingesampleten Zitat von Max Horkheimer und dessen Erkenntnis, dasz Geld Zeit ist, tut er so, als wuerde Zeit, als die knappste aller 'Ressourcen', die finanziellen Ressourcen des Individuums bestimmen und nicht umgekehrt. Dabei geht er soweit, romantisch zur Rueckgabe von Zeit an ein offenbar gemeintes Publikum seitens der "Kulturproduzenten" aufzufordern ... deren Ressource somit jedem (zeitbasiertem Medienkuenstler) aequivalent offenliege? Wohl nur dem, der sie gestaltet (Kinozeit?). P? Was dem Kuenstler bleibe, sei der Eingriff in die Struktur der Funktionalisierung von Zeit. ( > Mapping Zeit) Anstatt die oekonomischen Bedingungen zu diskutieren, wie sie die Rest-Zeit, also die ueberhaupt verfuegbare Lebenszeit zum Lifetime-Value (Arbeit./.Zeit=Arbeitsleistung) macht, setzt er nach George Bataille auf den Topos einer Praxis der "Verschwendung" (320). Verschwendung kann aber, aus materialistischer Perspektive, nur stattfinden, wenn ETWAS verschwendet werden kann. Dieses Etwas wuerde Zielinski wahrscheinlich mit "symbolischem Kapital" (Bourdieu) gleichsetzen. Zu fragen waere, was die Quellen zur Generierung dieser Kapitalform sind. Die sozialisationswertverneinenden und ahistorischen Antworten der Aesthetiker darauf sind: der Kuenstler ist begabt, ... hat Talent, ... ist ein Genie, ... ist gut. Z gibt darauf diese klare Antwort: der alternative Markt: positiver Verlust des Einen und Bereicheurng des Anderen (320). Von der "Enteignung der Produktionsmittel" geht er ueber zur 'Enteignung von Zeit' (317), die nur beendet wuerde, wenn die Souveraenitaet ueber die Zeit wiedergewonnen wuerde. (320)

Die Logik dieser Praxis der Verschwendung muesste dann wohl grob lauten: Das "symbolische Kapital" oder "kulturelle Kapital" setzt der Kuenstler ein, indem er dessen Produkt frei, d.h. bedingungslos (ohne Tausch, ohne verlangte Gegenleistung = verschwendend) an das Publikum abgibt und es auf diese Weise aus seinem (unerschoepflichen?) Besitz entlaesst, womit die Unterschiedsbalance der Besitztuemer von Produkten symbolischen Kapitals (Wissen, Erfahrung, Sinn) aufgehoben wird oder dieser gesamte oekonomische Aufbau gleich ganz verlassen wird, indem er ignoriert oder durch eine Handlung, die nicht (Waren-)Tausch ist und keine Zugangsbeschraenkungen zum Objekt aufstellt, ersetzt wird ("Aufhebung der Oekonomie"). Man kann - hier zunaechst ohne Begruendung - feststellen, dasz das immanent und symbolisch bleibt und nach Unterhaltung und Sinnproduktion klingt, die reellen, monetaeren und Eigentumsbezogenen Kapitalverhaeltnisse jedoch voellig unberuehrt laesst und im Gegenteil, die Frage der Deterniniertheit von Zeit, Zeitproduktion und Zeitbewusztsein von der Frage nach den Produktivkraeften entkoppelt. Um die Produktionsstaette des 'verschwendbaren Etwas' zu chrakterisieren und gegen die Oekonomie anzusetzen, argumentiert Z (mit Pierre Klossowski, -> siehe unten S. 325) fuer den Status von Kunst als Ort risikofreundlicher experimenteller Forschung, fuer das Spiel mit Erfolg und Scheitern, und rehabilitiert wiederum klischeehaft Kunst als Feld des Zweckfreien (Geld des Zweck-losen, und Interesselosen ? -> Kant's "interesseloses Wohlgefallen" -> _Kritik der Urteilskraft_) als Alternative entgegen dem Rentabilitaetsdenken des Profits. Attituede?

"Der Dichter musz sich gluehend. glanzvoll und freigebig verschwenden, um die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente zu vermehren." (Filippo Tomaso Marinetti. "Manifest des Futurismus", 1909)

Zum Ende dieser Story- und Argumentationslinie wird er fast zynsich, indem er die durch Lohnarbeit bzw. Markterfolg abgesicherten Freizeitaktivitaeten im Netz von Linux-Programmierern und eines prominenten SF-Autors mit seiner romantischen Vorstellung vom verschwenderischen Produzieren abgleicht und diesen Modellcharakter zu weist. Offenbar will er Oekonomisches mit A-Oekonmischem dichotomisieren und zieht dabei die Netzwelt als von oeknomischen Zwaengen weitgehend befreite Zone und Trainingsgebiet fuer freie und bewuszte Ressourcenvergeudung der Realwelt des Kapitalismus vor ... Eskapismus? Zitat: "Als verschwenderische Taetigkeit koennte die kuenstlerische Praxis auch in den Netzen eine glaenzende Zukunft haben." (355) Mit anderen Worten: Die Aktivitaeten, die aus bezahlter Arbeit gespeist zu unbezahlter Arbeit werden und als "kuenstlerisch" klassifiziert sind, sollen gemeinnuetzig werden und von der kulturellen Avantgarde, die das oekonomisch praktiziert koenne die allgemeine Netzcommunity oder genauer, die progressivste Repraesentation des "Gefueges" der technischen Welt (-> # # S. 323) qualitativ inhaltlich und symbolkaptalistisch profitieren. Somit adelt Zielinski die "Aufhebung der Oekonomie" von Bataille auf insulaeren geschuetzten subventionierten Terrains, den staatlichen/privaten Refugien der Kunstproduktion, die in der Mittelvergabe an sie privilegiert ist, aber an Markt und Warenzirkulation direkt (ueber Loehne, Tantiemen, Gehaelter, Honorare, Gagen) angeschlossen bleibt, als performativen, virtuellen Akt im informationellen Raum digitaler Datennetze zu einem futuristischen Modell des Handelns. Er reproduziert damit Ideen des Cybercommunism und dem Oekonomiefreien Raum der Autonomie und kommt damit nur wieder auf das Modell des Prototyps fuer den Symbolarbeiter, den sich selbst vermarktenden / ausbeutenden Kuenstler, der aus dem Geld seines
Jobsektors im Hobbysektor Kultur macht. Exakt die Aussage Geert Lovinks 2003 in einem Interview (sinngemaesz): "warum musz Kunst immer kommerziell sein?", "die Leute koennen das doch auch als Hobby betreiben."

Merkwuerdig, dasz Z erkennt, dasz in den 1990er Jahren auf "die neuen medialen Netze [...] politische und kuenstlerische Utopien des freien Austauschs jenseits von Markt- und Machtstrukturen projiziert" wurden (320), er aber seine eigene, diesen utopischen Topos wiederholende Projektion einer glaenzenden Zukunft verschwenderischer Taetigkeit in den Netzen als kuenstlerische Praxis, nicht als solche markiert. Stattdessen erhebt er _Intuition_ zur Domaene der Kunst und zu ihrem Unterscheidungsmerkmal. (322) Wo und wie oft wurde das schon geschrieben? Er blendet aus, dasz exakt dieses Skill zum Faktor "Kreatives Potenzial" ( > Die Container-Metapher) gehoert und in der Dotcom-Blase um 1999-2000 und auch in der Phase der "Konsolidierung" (vgl. den Jargon z.B. im _Handelsblatt_ 2003) der vormals "Neuen Maerkte" hoechst nachgefragt erscheint. Als Buzzword der Differenz eignet sich Intuition nicht mehr, es sei denn als Kategorie der Distinktion.

Wenn am Anfang gefragt wurde, wie und vor was Z kuenstlerische Praxis verteidigt, dann kann jetzt eine Antwort gegeben werden. Er verteidigt sie vor der ausgemachten Oekonomiesierung des Kulturellen (der Kulturproduktionsverhaeltnisse) indem er ihr einen gesellschaftlichen Ausnahmestatus zugesteht, innerhalb derer in Insellage alternative Formen der Oekonomie von Zeit und Rentabilitaet experimentell getestet werden. Ob die bei Z implizite Grundannahme einer Oekonomisierung des Kulturellen so ueberhaupt zutrifft, muesste diskutiert werden, insbesondere die Systematik und Begrifflichkeit dieser Annahme, naemlich, ob "das Kulturelle" jemals nicht oekonomisiert war, und wenn nein, ob das historisch blosz unter Wirtschaftsgesichtspunkten gelesen wird, und ob Kultur als Gesellschaftsteil generell von einer Restgesellschaft abtrennbar ist.

Zur Frage warum kuenstlerische Praxis verteidigt werden soll, kann man bei Z spekulativ eine kulturphilosophiepolitische Motivation ausmachen: Kunst wird als gesellschaftlich zufluchtbietendes Korrektiv gelesen, in ihrem Bestand selbst besteht ein utopischer Gehalt zur Umgestaltung von Teilen der Gesellschaft. Insofern ist Kunst "kulturpolitisch" ein gesellschaftlicher Faktor, der transdisziplinaer und transsozial Loesungen anbietet. Als Konkurrenz zu anderen 'Sektoren' (Wirtschaft, Politik, Naturwissenschaft) der Gesellschaft ist der Faktor Kunst permanent gefaehrdet, weil er von Subventionen und Sponsoring abhaengig ist oder laengst Teil der anderen Sektoren ist. Die konkreten Produktionsstaetten des Sektors "Kunst", die Labore, sind von Kuerzungen oder von rentabilitaetsorientierter Vereinnahmung bedroht. Die Rede fuer einen Intuitionismus, d.h. heiszt fuer eine die Wissensbestaende der Kunst (stellvertretend fuer die kulturalisierte, weil vom Oekonomischen abgesonderte Praxis) zum Eigenkapital erklaerende Politik, ist eine Verteidigungsargumentation fuer das Terrain der Kunst mit der Vorstellung eines "souveraene[n] Gebiet[s] der Poesie", (294) F? die auf den neusten technischen Stand gebracht wurde? Denn es bietet sich an, zu fragen: wenn er titelt "[...] Medien [...] technisch[...] Hoeren [...] und Sehen[...]", was dann *technisch* ist: die Medien, die Wahrnehmung, oder alles drei?



# # = markiert von MS

in: Siegfried Zielinski. _Archaeologie der Medien: Zur Tiefenzeit des
technischen Hoerens und Sehens._ Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
Taschenbuch Verlag, 2002. S. 292-327 + 355/356 + teilw. Literaturangaben
358-384.

"7. Schlussthesen mit dem Entwurf fuer eine


Kartographie
zur An-Archaeologie der Medien

"Die Dinge sind da, warum sie erfinden?"
_Jean-Luc Godard, "Eloge de l'amour", 2001_

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| Die entwickelten Medienwelten benoetigen kuenstlerische,      |
| wissenschaftliche, technische und magische Herausforderungen. |
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Fuer die Generation, die an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert erst
damit begonnen hat, mit und in den Medienwelten schoepferisch zu arbeiten,
ist das Wissen um die fortdauernde Moeglichkeit einer #magischen Haltung
gegenueber der Technik#
und die Gewissheit, dass eine solche Verausgabung
nicht sinnlos werde, von hoechster Bedeutung. Fotografische und
kinematographische Apparate, ausdifferenzierte und automatisierte
Gestaltungsformen, elektronische Instrumente, lokale wie vernetzte
Kalkulationsmaschinen sind fuer die heutigen Medienaktivisten nicht mehr
prinzipiell neu zu entdecken, wie das fuer die Avantgarden der 1920er, die
Nachkriegspioniere des Fluxus, der Aktionskunst und des Video oder die
fruehen Netzwerker noch der Fall war. Sie sind umgeben von standardisierten
technischen Apparaten und Systemen, zu deren funktionalen Grundlagen
der Zugang enorm aufwendig geworden und nur wenigen Privilegierten
vorbehalten ist. Dazwischen noch #einen eigenen Weg hin zum originellen
Ausdruck zu finden ist schwer#
, wenn man nicht einfach fuer die neuen
Kanaele das wieder aufbereiten moechte, was schon existiert. Viele der
kuenstlerischen und gestalterischen Aktivisten gehen den Weg, durch
ungewoehnliche Verbindungen vorhandener Ausdrucksmittel und
Materialien etwas zu erzeugen, was sich signifikant von den Erscheinungen
des medialen Alltags unterscheidet. Sie vereinigen sich dafuer beispiels-

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weise zu losen temporaeren Kooperationen der Club- oder Tanzszene.
#Kombinationen# des _D-Jaying_ und des _V-Jaying_ stehen fuer besondere Ver-
bindungen von Klang- und Bildbearbeitung in Echtzeit, die man als
zeitgenoessisches _expanded cinema_ [1] begreifen kann. An die Musikma-
schinen, die koerperliche Sensorik oder gar die Gehirnwellen direkt an-
geschlossene, selbst gebaute oder annektierte Bilderwelten werden in
verlassene Ruinen des industriellen Wohlstands in technoldem Rhyth-
mus projiziert. Ihre Auffuehrungsorte sind ehemalige Fabrikhallen, die
in Koeln und Berlin _E-Werk_ oder in Duesseldorf _Stahlwerk_ heiszen. Wenige
gehen den riskanteren Weg, naemlich an einzelnen Stellen des ausdiffe-
renzierten Mediensystems so in die Tiefe zu gehen, dass voruebergehend
die etablierten Grammatiken in Unruhe geraten. Das ist poetische Pra-
xis im engeren Sinn, wie sie der magische Realist Bruno Schulz ver-
standen hat: "Wenn die Kunst nur bestaetigen sollte, was seit eh und jeh
festgelegt wurde, dann brauchte man sie gar nicht. Ihre Rolle ist die
einer Sonde, die ins Namenlose hinabgelassen wird. Der Kuenstler ist
ein Apparat, der Vorgaenge in einer Tiefe registriert, in der Werte ge-
schaffen werden." [2]
In den l930ern hatte der polnische Schriftsteller einen kurzen Brief-
wechsel mit seinem beruehmteren Kollegen Witold Gombrowicz. Dieser
schrieb an Schulz, er haette eine Dame, die Frau eines Arztes, in der
Straszenbahn getroffen, die ihn (Schulz) entweder fuer einen Verrueckten
oder fuer einen Poseur hielte. Mit dieser Provokation, die er ueber die Oef-
fentlichkeit der Avantgarde-Zeitschrift "Studio" lancierte, wollte Gom-
browicz den juengeren Kollegen zum intellektuellen Duell auffordern.
Schulz verweigerte sich. "... ich glaube naemlich nicht an den heiligen
Codex der Arenen und Foren, ich verachte ihn . . ." Am Schluss seines
Antwortbriefs an Gombrowicz laesst er sich doch noch zu einem Urteil
hinreiszen, das ins europaeische Herz trifft: "Du hast das Zeug zu einem
groszen Humanisten, was ist denn Deine pathologische Empfindlichkeit
fuer Antinomien sonst, wenn nicht Sehnsucht nach dem Universalen,
Sehnsucht nach dem Humanisieren _nicht vermenschlichter_ Gebiete,
Sehnsucht nach der Enteignung partikularer Ideologien und ihrer Er-
oberung zugunsten der groszen Einheit." [3]
Schulz stammte aus dem kleinen Ort Drohobycz in Galizien, der

293


heute zur Ukraine gehoert. In seiner Sammlung von Geschichten ueber
"Die Zimtlaeden" lud er die vergessenen Dinge und Figuren seines Hei-
matstaedtchens mit seiner #magischen Phantasie# wie mit neuer Energie
auf. Der Urheber eines der schoensten und verwirrendsten Buecher des
20. Jahrhunderts, des "Goetzenbuchs", arbeitete am dortigen Gymna-
sium als Zeichenlehrer. 1942 wurde er naechtens auf der Strasze er-
schossen. Schulz hatte versucht, im Ghetto zu ueberleben, indem er fuer
einen Offizier von Hitlers SS malte und zeichnete. Dieser hatte den
Guenstling eines Mannes von der Gestapo umgebracht. Die Erschie-
szung von Schulz war wiederum eine Vergeltung fuer diesen Mord.
1936, drei Jahre bevor die Nazis Polen ueberfielen, verfasste er in War-
schau einen Text, der, wie viele andere, Fragment blieb, "Die Republik
der Traeume". Im Traum sei "ein Hunger nach Wirklichkeit beschlos-
sen", schreibt er darin, "eine Forderung, welche die Wirklichkeit ver-
pflichtet, unmerklich zur Glaubwuerdigkeit und zu einem Postulat her-
anwaechst, zu einem faelligen Wechsel, der nach Deckung verlangt". Als
Republik der Traeume proklamiert Schulz "#das souveraene Gebiet der
Poesie#
", in dem "ein Leben der Abenteuer, unaufhoerlicher Blendungen
und Verblueffungen" gelebt werden koenne. Sein Paradies ist jenem
Reich des flieszenden Honigs nicht fremd, das Empedokles von der Koe-
nigin Kyris beschuetzen liesz. Er konzipiert es als #Zuflucht# und vor allem
als Ort grenzenloser Gastfreundschaft. Wer sich, "von Woelfen oder
Raeubern verfolgt", dorthin schleppe, sei gerettet. "Er wird im Triumph
eingeholt, es werden ihm die verstaubten Kleider ausgezogen. Festlich,
selig und gluecklich tritt er in das elysaeische Wehen, in die Rosensuesze
der Luft", die den Garten durchdringe, mit seinen "Zellen ... Refekto-
rien und Dormitorien, Bibliotheken ... Pavillone ... Altane und Belve-
dere." [4]
Faellige Wechsel, die nach Deckung verlangen, #Verteidigung von
Antinomien versus die Universalisierung der Restbestaende des Hetero-
logen und eine Politik, die von der Poesie der Gastfreundschaft durch-
drungen ist: So koennte man untergruendige Energiestraenge bezeich-
nen#
die sich durch die Tiefenzeit der Medien ziehen. Der Dichter aus
dem winzigen Dorf am Ende der Welt., dessen Texte und Zeichnungen
fuer viele Kuenstler und Wissenschaftler der zweiten Haelfte des 20. Jahr-

294


hunderts implizit Katalysatoren fuer ihre Arbeit an der #Umgestaltung
der Wirklichkeit#
zu ihren Gunsten wurden, [5] inspirierte auch meine
Untersuchung. Unverhohlen hat sich in der Bewegung durch die Tie-
fenzeit gedachter und gebauter Medienwelten eine einseitige Faszina-
tion ausgedrueckt. Sie gilt einem magischen Verhaeltnis zu den Dingen
und ihren Relationen.
In einem brillanten Aufsatz zu "Form und Technik" befasste sich der
aus Breslau stammende Philosoph Ernst Cassirer 1930 vom Stand-
punkt des engagierten Aufklaerers mit den #historischen Beziehungen
zwischen Praktiken der magischen Naturphilosophie und experimen-
teller Physik#
. Die Trennwaende zwischen beiden sah er prinzipiell in
aehnlicher Durchlaessigkeit, wie Empedokles die Schnittstellen seiner ak-
tiven Organe konzipierte. Zugleich kritisierte er aber die These, dass die
magischen Kuenste als unmittelbare Vorlaeufer des naturwissenschaft.-
lichen Experiments zu betrachten waeren, [6] an einem fuer den moder-
nen Aufklaerer entscheidenden Punkt: "Sie spricht dem magischen Ver-
halten eine Bedeutung zu und vindiziert ihm eine Leistung, die erst
dem technischen Verhalten vorbehalten ist. Die Magie mag sich
immerhin dadurch von der Religion unterscheiden, dasz der Mensch in
ihr aus dem blosz passiven Verhaeltnis zur Natur heraustritt - dasz er die
Welt nicht laenger als bloszes Geschenk ueberlegener goettlicher Macht
empfangen, sondern, dasz er sie selbst in Besitz nehmen und ihr eine
bestimmte Form aufpraegen will. " [7] Von der systematischen Durchdrin-
gung der Dinge und ihrer Beziehungen durch die experimentelle Wis-
senschaft und ihrer Implementierung als Technik waeren die magi-
schen Kuenste aber insofern abzusetzen, als in ihnen ein ueberhoehtes
Wunschdenken. von der "Allmacht des Ich" traeumte.
Vom Standpunkt einer Archaeologie, fuer die #poetische Durchdrin-
gungen der Medienwelten#
einen besonderen Stellenwert haben, laesst
sich zuspitzen, was bei Cassirer anklingt: #Die magischen Kuenste lassen
sich in ihren Operationen nicht eindeutig zweckbestimmen#
, und sie
setzen eine spezifische Haltung voraus. Diese Haltung ist nicht zu be-
greifen als eine unterentwickelte Vorform experimenteller Annaehe-
rung an die Dinge und ihre Relationen, die sich historisch in der Vor-
moderne erschoepft hat. Cassirer kritisiert, dass die magische Denkform

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als "primitiv" ... nach dem Masz und der Sicherheit ihrer inhaltlichen
Kenntnisse" einzustufen sei. "Der Kreis der Beobachtung ist zu eng, die
Art der Beobachtung ist zu schwankend und unsicher, als dasz es
zur Aufstellung wirklich haltbarer empirischer Gesetze kommen koenn-
te ..." [8] Genau hierin liegt aber das Anregungspotenzial des magischen
Zugangs zu den technischen Medienwelten begruendet. Die leiden-
schaftliche Konzentration auf einen Beobachtungsbereich kann sich
die Wissenschaft, die an der Aufstellung verallgemeinerbarer haltbarer
empirischer Gesetze interessiert ist, ebenso wenig leisten wie das
Schwanken und die Unsicherheit bei ihrer Durchfuehrung. Aber beide
sind unverzichtbare Voraussetzungen eines experimentellen Denkens
und Handelns, das sich ein Scheitern leisten kann und das keine Angst
davor hat, es als Moeglichkeit mitzudenken. Ohne sie verkommt das Ex-
periment zu einem bloszen Test von vorher aufgestellten Gesetzen. Die
emphatische Zuwendung zu einer einzigen Idee und ihre Ausschoep-
fung bis zur Neige kann #fest gefuegte Grammatiken in Unruhe verset-
zen#
. Die etablierten Betriebe antworten darauf in der Regel mit Aus-
grenzung. Aber diese Ausgrenzung muss nicht von Dauer sein. Im
Hinblick auf die Medien hat unter anderem die An-Archaeologie dafuer
Sorge zu tragen. Magische, wissenschaftliche und technische Praxis
folgen fuer sie nicht chronologisch aufeinander, sondern verbuenden
sich zu bestimmten Zeitpunkten, kollidieren miteinander, provozieren
einander und halten die Entwicklung so in spannungsreicher Bewe-
gung. #Durch das Aufeinandertreffen heterogener Zugangsweisen kann
es zu Oeffnungen kommen, die langfristig sogar zu relativ stabilen tech-
nischen Innovationen fuehren moegen#
. Portas experimentelle Auslotung
der medialen Moeglichkeiten der camera obscura fuer die Inszenierung
von Ton und bewegten Bildern oder seine rotierenden kryptographi-
schen Apparate sind dafuer ebenso Beispiele wie Kirchers Kombina-
tionskaesten fuer mathematische oder musikalische Kompositionen oder
Ritters Entdeckungen zur Elektrizitaet zwischen chemischen und elek-
trischen Prozessen.

296

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| Die Pflege von #Dramaturgien der Differenz ist ein wirk- |
| sames Mittel gegen die zunehmende Ergonomisierung der  
 |
| technischen Medienwelten#
im Zeichen des linearen Fort-  |
| schritts.                                                |
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Als Fokus des Aufeinandertreffens gegensaetzlicher Konzepte fuer schoep-
ferische Taetigkeiten mit und in den computerzentrierten Medien haben
sich die Handhabung wie die Gestaltung von _Interfaces_ herausgestellt.
Jene Grenze zwischen Mediennutzern und Medienapparaten, die im
Deutschen treffender Schnittstelle heiszt, trennt und verbindet zugleich
zwei unterschiedliche Welten: einerseits diejenige der an den Maschi-
nen Taetigen, andererseits diejenige der aktiven Maschinen und Pro-
gramme. Die technologische Entwicklung wie auch die dominanten
Medienkonzepte der 1990er liefen darauf hinaus, die Grenze zwischen
beiden unmerklich zu machen. Man sollte einen Computer benutzen
lernen, ohne zu merken, dass man es mit einer algorithmisch aufge-
bauten Maschine fuer Kalkulationen und Simulationen zu tun hat. Man
sollte in eine so genannte virtuelle Realitaet von Bildern und Toenen ein-
tauchen koennen, ohne zu spueren und noch mehr: ohne zu wissen, dass
man es mit einer praezise vorstrukturierten, berechneten Konstruktion
von Oberflaechen und Zeitverlaeufen zu tun hat. Die Computer wur-
den fuer ihre Benutzer wie eine _camera obscura_ inszeniert, an deren Ef-
fekten man sich erfreuen und mit der man arbeiten kann, zu deren
Funktionsweise man aber keinen Zugang mehr benoetigt. Gegen eine
reibungslose technologische und semiologische Ergonomie experimen-
tierten einige Kuenstler im Verbund mit Programmierern, Physikern
und Ingenieuren daran, auch mit den fortgeschrittenen Technologien
Dramaturgien der Differenz weiterhin zu ermoeglichen und zu entfal-
ten. In Nachfolge der klassischen Film- und Videoavantgarden insis-
tierten sie darauf, dass die Computerwelten als kuenstlich gebaute
zugaenglich bleiben. Die Schnittstellen zu ihnen in Spannung zu den
Welten auszerhalb der Maschinen zu konstruieren, sollte den Genuss
dieser Medienwelten erhoehen und nicht vermindern.

297


Unter "eingreifendem Denken" verstand #Brecht# eine Alternative
zum optionalen Denken, das die wahre Welt als Warenwelt permanent
einfordert. Sein #"Kleines Organon zum Theater"# von 1948 ist ein theo-
retisches und praktisches Plaedoyer fuer eine operationale Dramaturgie,
eine dramatische Kunst, die nicht nur zur Illusionierung und Reini-
gung einlaedt, sondern beim Genuss das Denken nicht aussetzen laesst,
Sinne und Verstand nicht als Gegner betrachtet, sondern als miteinan-
der ringende Kraefte eines aufregenden Gesellschaftsspiels, das wir
Kunst nennen koennen. Ein vergleichbares _Organon_ zur Schnittstelle
gibt es noch nicht. [9] Wohl aber entwickeln sich kraftvolle kuenstlerische
Praxen einer Dramaturgie der Differenz, innerhalb und auszerhalb der
Datennetze. Markanterweise sind es gerade Gruppen wie das fuenfkoep-
fige nordamerikanische _Critical Art Ensemble_ oder das deutsch-oesterrei-
chische Terzett _Knowbotic Research_, die an solchen Konzepten seit etwa
zehn Jahren kontinuierlich arbeiten. Ihre Projekte sind konsequent
zwischen den Disziplinen kuenstlerische Theorie und Praxis angesie-
delt; die #Kritik vereinheitlichender Technologiepolitik# ist wichtiger Be-
standteil.
Perry Hoberman aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn gehoert zu
den wenigen Einzelakteuren zeitgenoessischer Produktion von Kunst
mit und durch Medien, denen die Gratwanderungen zwischen techni-
scher Faszination und eingreifendem Denken auszerhalb der Netze ge-
lingen. Seine Installation "Cathartic user interface" (1995) bedient
oberflaechlich den Bedarf nach raschen Entladungen von Frustratio-
nen und Aggressionen im Umgang mit den aeuszeren Schnittstellen der
Heimcomputer und ihrer Produzenten. Wie in anderen Arbeiten zu-
vor [10] greift er auch hier auf eine rudimentaere Erfahrung aus der All-
tagskultur zurueck, in diesem Fall das Ballwerfen auf gestapelte Blech-
dosen, wie es die Besucher seiner Installation von den Jahrmaerkten
kennen. Treffer werden dabei gewoehnlich mit _gadgets_ als Belohnung
gratifiziert. Beim "kathartischen Nutzerinterface" sind die Konserven
durch Computertastaturen ersetzt. Trifft man eine der aktiven Tasten,
wird man nicht durch ein Artefakt belohnt, das aus einer Welt auszer-
halb des Spiels stammt. Die Gratifikationen, die als technische Bilder
auf die mit den _keyboards_ bestueckte Projektionswand geworfen wer-

298


den, stammen aus der Welt der Maschinen und Programme selbst. Es
sind ironische Benutzeranweisungen oder #Fehlermeldungen, satiri-
sche Verschiebungen#
der graphischen Benutzeroberflaechen, Gesichter
der Agenten der PC-Industrie. Durch die koerperliche Aktion des hefti-
gen Werfens auf die Objekte der Angst und des Widerwillens wird kurz-
zeitig ein befreiendes Gefuehl hervorgerufen. Aber die erhoffte Katharsis
tritt nicht ein. Die Gratifikationsofferte ist eine aus der Welt der Ma-
schinen und Programme, die durch die physische Aktion nur in ihrer
visuellen Erscheinung attackiert werden kann. Ein Kurzschluss im ky-
bernetischen System: Der programmierten und standardisierten Welt
ist nicht durch den Maschinensturm beizukommen. Der war schon im
vorletzten Jahrhundert nicht erfolgreich. In diese Welt ist nur wirksam
einzugreifen, indem man ihre Handlungsgesetze lernt und sie zu ueber-
laufen oder zu unterlaufen versucht. Man muss die Position des Teil-
nehmers eines Jahrmarktspektakels verlassen und zu einem Operateur
innerhalb der technischen Welt werden, der an ihrer Andersartigkeit
mitarbeiten kann. Fuer die kuenstlerische Praxis mit Computern bedeu-
tet das insbesondere, die Codes zu lernen, mit denen sie funktionieren.
Gastev hat allerdings fuer die Techno-Avantgarde der 1920er schon de-
monstriert, dass diese Position nicht unbedingt identisch sein muss mit
derjenigen der Programmierer selbst.
Dass es sich bei dem "cathartic user interface" um eine Installation
handelt, in der mehrere Besucher zugleich taetig werden koennen, ist ein
wichtiger Bestandteil des Konzepts, das in den meisten Arbeiten Hober-
mans zum Tragen kommt. Die aktive Anwesenheit verschiedener Per-
sonen, die in einem zwielichtigen Handlungsraum miteinander korres-
pondieren, fuehrt zu Interaktionen zwischen den Besuchern, wie sie im
dunklen Kubus Kino so nicht moeglich sind. Auch dies ist als ein _expan-
ded cinema_ der besonderen Art begreifbar

-------------------------------------------------------------
| Wirksame Verbindungen zu den #Peripherien# herzustellen,  |
| ohne sie in die Zentren integrieren zu wollen, kann dabei |
| helfen, die Medienwelten offen und veraenderlich zu hal-  |
| ten.                                                      |
-------------------------------------------------------------

299


Die modernen audiovisuellen Massenmedien etablierten sich zuerst in
den industriellen Zentren. Als Innovationen wurden Kino und Fernse-
hen in Berlin, London, New York und Paris durchgesetzt, Wir haben
uns daran gewoehnt, Mediengeschichte aus der Perspektive solcher Me-
tropolen zu denken, zu schreiben und dargestellt zu bekommen. Diese
Sichtweise fuehrt in eine Sackgasse, nicht zuletzt deshalb, weil die de-
zentralisierten und vernetzten Mediensysteme die industriellen und fi-
nanziellen Metropolen nicht mehr in der Weise benoetigen, wie es bei
den Massenmedien der Fall war. Der Einstieg Japans in den westlichen
Markt hat schon erhebliche Verschiebungen bewirkt. Mit ihrer Kon-
zentration auf mobile und elektronische Medienartefakte begannen ja-
panische Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg, die geographi-
schen Verhaeltnisse in medienoekonomischer Hinsicht betraechtlich zu
veraendern. Diese Tendenz verstaerkt sich weiter. #Seoul oder Singapur
haben gerade erst damit angefangen, in die hegemonialen Verhaeltnisse
aus der fernoestlichen Peripherie einzugreifen.#
Viele der aktuellen Soft-
wareloesungen werden zwar noch ueber nordamerikanische Korporatio-
nen lukrativ vermarktet, aber nicht mehr primaer dort entwickelt. Die
Auto- und Schwerindustrie, mit der Europas Westen oekonomisch stark
geworden ist, eignet sich nicht als Modell fuer die Herstellung extrem
fluechtiger Produkte als Dienstleistungen. Die Medienwelten der Tele-
matik sind so ubiquitaer, wie ihre Konstrukteure prinzipiell mobil und
nomadisch geworden sind.
Die Suchbewegung durch die Tiefenzeit des technischen Hoerens und
Sehens, zu dem sich im Verlauf der Untersuchung das technische Kom-
binieren als weiterer Fokus hinzugesellt hat, engagiert sich fuer eine dop-
pelte #Verschiebung der geographischen Aufmerksamkeit: vom Norden
zum Sueden und vom Westen zum Osten.#
Mit dem Markt haben diese
Verlagerungen zunaechst nichts zu tun. Zugespitzt formuliert stammen
die philosophischen und praktischen Grundlegungen fuer den Bau der
modernen Medienwelten aus dem Fernen Osten, vor allem aus den frue-
hen Hochkulturen Chinas, sowie aus den Regionen um das Mittelmeer,
aus Kleinasien, Griechenland, den arabischen Laendern und ihren Vor-
posten im suedlichen und suedwestlichen Europa. Am Beispiel der Ent-
wicklung von Konzepten und Artefakten zur Optik haben wir die Bewe-

302


gung in groben Zuegen verfolgen koennen. Von den in etwa parallelen
Anfaengen in China, den griechischen Inseln und Sizilien ueber die Reak-
tivierung und Erweiterung dieses Wissens durch arabische Forscher
um die erste Jahrtausendwende verschoben sich die Aktivitaeten und
ihre Verdichtungen allmaehlich nach Norden. Die sueditalienische Me-
tropole Neapel wirkte in der fruehen Neuzeit als ein Durchlauferhitzer
fuer die diversen Versuche der magischen Aneignung der Dinge und der
Kenntnisse ueber sie. Im Norden und im Nordosten traten verstaerkt die
toskanischen Staedte und vor der Wende zum 17. Jahrhundert das Prag
Rudolfs II. als Drehscheiben astronomischen, mathematischen und
technischen Wissens auf den Plan, mit Verbindungen zu London, Ox-
ford, Cambridge, Paris, aber auch dem polnischen Kraków. Mit dem
Netzwerk des jesuitischen Ordens als intellektueller Avantgarde und
dem Vatikan als Ordnungszentrale avancierte im 17. Jahrhundert Rom
zu der Metropole, in der das von der katholischen Kirche akzeptierte
Wissen um die neuen Medienwelten gesammelt, ausgewertet und welt-
weit wieder verteilt wurde. Den Sueden degradierte der Vatikan mehr
und mehr zur Peripherie. In weltanschaulicher Konkurrenz zu Rom
profilierten sich Paris mit seinen katholischen Minimalisten und fruehen
rationalistischen Aufklaerern, die klassischen Universitaetsstaedte Eng-
lands, London und die Hochburgen des liberalen Geistes in den Nie-
derlanden. Die Ketzer flohen vor den Verfolgungen der Inquisition
und hinterlieszen an den Orten, in denen sie voruebergehend aufgenom-
men wurden, ihre Spuren. Insofern markiert das "Electricorum" des
roemischen Rhetorikprofessors Mazzolari einen fulminanten Hoehe-
punkt, zugleich aber auch schon das vorlaeufige Ende dieser geographi-
schen Ordnung. In der lateinischen Hymne auf die Elektrizitaet von
1767 wurde alles Wissen ueber diese neue Welt, die fuer die Medien so ent-
scheidend werden sollte, noch einmal gesammelt und in einer elektri-
schen Fernschreibmaschine technisch vergegenstaendlicht. Aber die
zeitgemaeszen Protagonisten des Poems stammten bereits aus ganz an-
deren Orten: aus Dubrovnik, aus Philadelphia oder aus dem hollaendi-
schen Leiden.
Mit Ritter, Chudy und Purkyne geriet zur 18. Jahrhundertwende
eine Region verstaerkt in die Aufmerksamkeit, die bis dahin vor allem

304


Beachtung gefunden hatte, wenn aus ihr hervorragende Forscher und
Lehrer, die es sich leisten konnten, in die Universitaetsstaedte Nordita-
liens, nach Rom oder Paris zum Studium oder zum Unterricht zogen:
das heutige Polen, Ungarn, Tschechien, mit ihren extrem wechselvol-
len Geschichten von Fremdherrschaften verschiedenster Art. Ihre Na-
turwissenschaftler und Ingenieure wanderten nun zum Studium und
zur Lehre teilweise noch in die akademischen Hochburgen Oesterreichs,
aber vor allem in die Universitaetsstaedte im thueringischen und saechsi-
schen Osten Deutschlands, nach Dresden, Halle, Jena oder Leipzig. Die
brutalen Einschnitte des Kriegs und der Nachkriegsgeschichte haben
dazu beigetragen, dass die Verbindungen zu den oestlichen Orten und
Archiven des Wissens und Modellierens fuer Jahrzehnte abgebrochen
waren. Wie dem zum Trotz entwickelt sich seit Mitte der 1990er an der
Grenze zwischen dem deutschen Westen und Osten die Medienfakultaet
der Bauhaus-Universitaet Weimar zu einem der avanciertesten Lehr-
und Forschungsinstitute.
Tiefer greifend noch waren die Brueche gegenueber der einstigen rus-
sischen Wissenschafts-, Technik- und Kunstmetropole St. Petersburg.
Die Trennungen wirkten hier ueber acht Jahrzehnte in doppelter Weise,
zum einen als harsche politische und ideologische Abwendung von al-
lem Westlichen, zum anderen als Verschiebung innerhalb Russlands.
Moskau wurde zur Zentrale der politischen Macht und damit auch zum
Fokus nationaler wie internationaler Aufmerksamkeit. Seit zehn Jah-
ren existiert mit dem "Theremin Center" am Staatlichen Moskauer
Konservatorium wieder ein Laboratorium fuer die Erforschung und Er-
probung neuer kuenstlerisch-medialer Formen. Es wurde benannt nach
dem Erfinder eines der ersten elektronischen Musikinstrumente, das
gaenzlich ohne Beruehrung und nur ueber die Beeinflussung elektro-ma-
gnetischer Wellen durch die Finger- oder Handstellungen des Spielers
funktioniert. Lenin liesz sich das Instrument 1922 im Kreml erstmals
vorfuehren. Erfunden hat es der Physiker und Musiker Lev Sergeivich
Termen allerdings 1920 in St. Petersburg, waehrend seiner Zeit als Leiter
des Labors am dortigen physikalisch-technischen Institut. Durch Brian
Wilsons legendaere Komposition "Good Vibrations" fuer die Beach Boys
sind seine seltsam heulenden Klaenge in die Geschichte der Popmusik

305


eingegangen. Unter dem Projekttitel "Forgotten future" hat Andrej
Smirnov, der Leiter des "Theremin Centers", damit begonnen, die Kraft
der alten Erfindungen wieder in das aktuelle Spiel mit den technischen
Illusionen einzubringen. Herausragende Kuenstlerinnen wie Anna Ku-
leichov verbinden die aesthetischen Ideen der russischen Kinetiker,
Kubofuturisten und Suprematisten mit aktueller elektronischer Kon-
zept- und Performancekunst.
Nicht nur aus dem neuen Moskauer Laboratorium heraus veraendert
sich die vertraut gewordene Geographie allmaehlich wieder. Die junge
Kunstszene St. Petersburgs begann schon in den Jahren der Perestrojka
damit, intellektuelle Verbindungen zu den Hinterlassenschaften der
Techno-Avantgarde der 1920er herzustellen. In einem riesigen Hinter-
hofgebaeude in der Pushkinskaja-Strasze residiert nicht nur die provo-
kante "neoakademische" Schule Timur Novikovs, sondern arbeitet
auch das "Techno-Art Center", das von Alla Mitrofanova und Irena Ak-
tuganova geleitet wird und in dessen "Galerie 21" unter schwierigsten
infrastrukturellen Bedingungen medienkuenstlerische Projekte reali-
siert und die Debatten um sie gepflegt werden. Die "Intermedia"-Abtei-
lung an der Budapester Akademie der Kuenste nahm ihre Arbeit bereits
im Herbst 1990 auf, vor Beginn der meisten akademischen Initiativen
im Westen, und hat mittlerweile, zusammen mit dem ihr verbundenen
"Center for Communication and Culture", einen internationalen Ruf
fuer die Entwicklung auszergewoehnlicher Medienprojekte erlangt. Mi-
kloes Peternaek, der Direktor beider Institute, konzentriert sich in seiner
Arbeit unermuedlich darauf, die Anschluesse der neuen Medienwelten an
die Reichtuemer der ungarischen Technik- und Kulturgeschichte wieder
herzustellen. "Die Zukunft ausgraben" hiesz 2001 ein Symposium in
Prag, das Jan Evangelista Purkyne und seinen Entdeckungen fuer das
technische Visionieren gewidmet war. Jan Svankmajer sorgt mit seinen
virtuosen Animations- und Spielfilmen seit Jahrzehnten dafuer, dass die
Verbindungen avancierter Medienwelten zur Tiefenzeit der Prager Al-
chemisten, Magier und Manieristen kraftvoll vorstellbar blieben.
"Alice" (1987), ((Faust>) (1994) oder "The Conspirators of Pleasure"
(1996) sind nur drei der juengeren filmischen Meisterwerke aus der _mun-
dus animatus_ des Prager Surrealisten, fuer die deutsche Kinos leider ver-

307


schlossen blieben. [11] Polen hatte - mit der Filmschule in Lodz als
Zentrum - schon in den 1970ern eine eigene Schule von Videokuenst-
lern hervorgebracht. [12] Unter der Diktatur Jaruzelskis emigrierten
einige ihrer Protagonisten, wie Zbigniew Rybczynski, in den Westen
und bereicherten dort die Szene des experimentellen Films ebenso wie
die kommerzielle Welt des Rock-Videos. Andere, wie Josef Robakowski,
entschieden sich dafuer, unter politisch und technisch schwierigen Be-
dingungen in Polen weiterzumachen. Die Biennale in Wroclaw hat sich
in den 1990ern zur wichtigen Drehscheibe fuer Ost-West-Beziehungen
in der kuenstlerischen Welt der elektronischen Medien entwickelt. Das
Festival _WRO 2000_ fand in jenem Gebaeude der alten Universitaet statt,
das in seinem Turm eine der ersten astronomischen Beobachtungssta-
tionen Europas beherbergte. Die Medienaktivisten der russischen, Pol-
nischen, tschechischen oder ungarischen Szene beginnen die wert-
vollsten Bestandteile ihrer Museen und Archive an das fortgeschrittene
technische und mediale Wissen des Westens anzukoppeln oder lassen es
sich erneut eigenstaendig entfalten.
Ende der 1960er fanden nahezu parallel zwei Ausstellungen statt,
die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, auf je besondere Art die Wech-
selverhaeltnisse zwischen Wissenschaft, Technologie, Kunst und Me-
dien zu thematisieren. Der schwedische Kurator Pontus Hulten organi-
sierte am New Yorker _Museum of Modern Art_ "The Machine". Das war
ein Rueckblick auf die Avantgarden der zurueckliegenden Jahrzehnte des
Zeitalters der Mechanik. In einem minimalen Appendix wurden aber
auch Kuenstler und Ingenieure eingeladen, gemeinsame Experimente
mit elektronischen Instrumenten und dem Computer vorzustellen. In
dem kiloschweren Katalog mit metallenem Einband drohen die ausge-
stellten elektronischen Projekte am Ende in blaeulicher Schrift auf wei-
szem Grund zu verschwinden. [13] Aber es war ein Anfang, zusammen
mit Jasia Reichardts unscheinbarerer Ausstellung im Londoner _Insti-
tute of Contemporary Arts_, die ebenfalls 1968 stattfand" Ihr Titel ent-
raetselt sich fuer die An-Archaeologie als ein hoechst willkommenes Ge-
schenk. Die Ausstellung hiesz "Cybernetic Serendipity". Serendip ist
eine fruehere Bezeichnung fuer Ceylon. Serendipity bezeichnet im Eng-
lischen das Glueck, durch Zufall wertvolle Dinge zu finden oder zu erfin-

308


den. Der Begriff soll durch den Schriftsteller Horace Walpole gepraegt
worden sein, in dessen Maerchen "The three Princes of Serendip" die
Helden staendig Dinge entdecken und erfinden, nach denen sie nie-
mand gefragt hat. [15]
Diese beiden Ausstellungen und ihre Buecher sind Legende, die meis-
ten der Pioniere rudimentaerer digitaler Graphik oder computergesteu-
erter Installationen bereits vergessen. Das ambitionierteste Ereignis
dieser Art fand indessen nur knapp drei Jahre spaeter in der Zagreber _ga-
Ierije grada_ statt. Unter dem Titel "dijalog sa strojem" (Dialog mit der
Maschine) trafen sich hier zum ersten Mal Kuenstlerinnen und Kuenst-
ler, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus west- und osteuro-
paeischen Laendern, den USA und Japan, um ihre verschiedenen Zu-
gaenge zu programmierter Kunst zu diskutieren. Unter vielen anderen
stellte der Wiener Marc Adrian ein Programm vor, das er zusammen
mit Gottfried Schlemmer und dem Programmierer Horst Wegschnei-
der entwickelt hatte. Durch einen 162-11-Computer von IBM wurden
Textfragmente aus populaeren Zeitschriften nach einem Zufallsprinzip
syntaktisch neu geordnet. Die von der Maschine nach den Regeln des
Programms montierten Texte wurden dramatisch, durch Schauspieler
(a, b und c), rezitiert. "c: duerfen sich kreuzpunkte nicht verlieben?
himmel beschwatzen koerperfrisch telefonleitungen. das muessen sie
auch haben! aber wer sagt denn seinem kind wirklich, was das ist:
himmel? peinlichkeiten liquidieren muede baeuche oder doch nicht? / a:
trinken sie peinlichkeiten! frauen finden unabhaengige geschmaecker.
die martinis kennen keine langeweile. / b: duerfen sich frauen nicht ver-
lieben? zungen schneiden knospig kreuzpunkte. was geschah mit dem
schoensten titelbildmaedchen der sowjetzone? " [16]
Im Norden Italiens streiten der Medientheoretiker und -aktivist
Tommaso Tozzi sowie das Netzwerk-Duo 0100101101101.org fuer eine
staerkere Integration der avancierten Technologien in die politische und
akademische Kultur. In Venedig baut Fabrizio Plessi seit Jahrzehnten
schoene barocke Videoskuipturen. Im Hinblick auf den Sueden ist eine
erneute Verschiebung der Geographie indessen noch schwer vorstell-
bar. Das liegt an gravierenden oekonomischen Problemen und man-
gelnden technischen Infrastrukturen. Es hat aber auch damit zu tun,

310


dass die juengsten innovatorischen Schuebe im Sektor der Medientech-
nologien Resultate von sozialen und kulturellen Prozessen sind, die
den suedeuropaeischen Gesellschaften eher fremd sind. Die Arbeit und
das Spiel an den individuellen Endstationen der Monitore und Daten-
netze finden in Vereinzellung statt, und sie sind im Wesentlichen immer
noch von geschlossenen Architekturen abhaengig, die an die globalen
Netze angeschlossen sind. Der imaginaere Aufenthalt im w/w/w besitzt
fuer Angehoerige einer Alltagskultur, die sich traditionell stark ueber die
Oeffentlichkeit der Straszen und Plaetze und die orale Kommunikation
definiert, noch wenig Attraktivitaet. Lediglich das _handy_, mit dem man
die am meisten geschaetzten Formen des Austauschs mit den Anderen
technisch erweitert praktizieren kann, bildet hier eine Ausnahme. In
Suedamerika stellt sich diese Situation wiederum betraechtlich anders
dar. Insbesondere in denjenigen Laendern, deren tele-kommunikative
Systeme ueber laengere Perioden fuer die Nutzer diktatorisch einge-
schraenkt waren, wie in Argentinien oder Brasilien, ist die Praesenz des
_Internets_ bereits weit in den urbanen Alltag hinein vorgedrungen. In
den besser gestellten Stadtgebieten von Buenos Aires oder Sao Paulo
findet man regelrechte Supermaerkte fuer den Zugang zum w/w/w. Das
sind Verkaufsstationen fuer Zeit. #Der Besitzer stellt die Infrastruktur und
die Terminals zur Verfuegung, ueber die der Kunde sich an das globale
Datennetz anschlieszen lassen kann. Dieser bezahlt wie beim Eintritt in
die Phantasiemaschine Kino.#

Das einstige Zentrum der magischen Naturforscher und Erfinder
phantastischer Medienwelten, Neapel, spielt in der aktuellen Medien-
geographie keine Rolle. Das, was in den Datennetzen als Simulation
angestrebt wird, das so wenig wie moeglich geordnete und restringierte
Neben- und Ineinander mannigfaltiger Identitaeten, ist hier Realitaet des
Alltags, mit allen seinen Inkompatibilitaeten, Desastern und Genuss
versprechenden Ueberraschungen. So behaelt die Stadt Portas den Sta-
tus, den sie schon fuer viele fruehere Generationen von Intellektuellen
hatte. Sie ist Ort der Sehnsucht, vor allem fuer diejenigen, die aus dem
satten und wohl geordneten Norden stammen. In Herbert Achtern-
buschs Film "Das Andechser Gefuehl" (1974) ist der vom Regisseur ge-
spielte Gymnasiallehrer gerade vom Freistaat Bayern zum Beamten auf

311


Lebenszeit ernannt worden. Das stuerzt ihn in tiefe Depression und Ver-
zweiflung. Anstatt zum gemeinsamen familiaeren Mittagessen kommt
es in der Kueche zu einem heftigen Streit mit seiner Ehefrau, in den auch
die Geliebte des Lehrers verwickelt wird. Von der Gattin mit einem riesi-
gen Fleischmesser attackiert, sinkt er auf den gekachelten Kuechenbo-
den nieder und haucht, vor den Fueszen seiner Geliebten, mit den Wor-
ten sein Leben aus: "Neapel sehen und sterben". Der ebenfalls praesente
Priester, gespielt von dem Filmregisseur und heutigen Direktor der Ber-
liner Film- und Fernsehakademie Reinhard Hauff, wurde zuvor in den
Garten vertrieben.

--------------------------------------------------------------
| #Die wichtigste Voraussetzung fuer die Gewaehr von relativ |
| machtfreien Raeumen in den Medienwelten besteht darin,   
 |
| auf den Anspruch der Besetzung ihres Zentrums zu ver-      |
| zichten.#
                                                  |
--------------------------------------------------------------

In der Tiefenzeit der Medien lassen sich zwei Modelle beobachten, die
den Spannungen entsprechen, die Georges Bataille in den 1930ern un-
ter dem Eindruck des Faschismus und des Stalinismus mit seinem Vor-
schlag zur "Aufhebung der Oekonomie" aufmachte. #Einer dem Para-
digma der Produktivitaet verpflichteten Oekonomie der Zurichtung, die
zunaechst im Projekt des industriellen Kinos und Fernsehens und vor-
laeufig im post-industriellen [17] Phaenomen des _Internets_ muendete, steht
eine Oekonomie der Freundschaft gegenueber. Die erste dient der Effekti-
vierung von Systemen, ihrem Schutz oder auch dem Angriff gegen an-
dere konkurrierende Systeme. Die zweite verhaelt sich gegenueber der
ersten subversiv und ist luxurioes. Sie bedarf keiner Legitimation, wie
das Vergnuegen und die Kunst keine solche benoetigen. Sie entfaltet sich,
oder es gibt sie nicht. Sie existiert in und neben der hegemonialen Oeko-
nomie.#
Selbst in denjenigen Medienwelten, die sich in empfindlicher
Naehe zur Macht entwickelten, der Telekommunikation und der Krypto-
graphie als ihr Spezialfall, war diese andere Oekonomie mit groszem Er-
findungsreichtum praesent. Von der "Polygraphia" des Trithemius ueber
die Vorschlaege zur Fernverstaendigung Portas bis hin zum "Ortsfor-

312


scher" Kessiers und der elektrischen Fernschreibmaschine Bozzolis wa-
ren die Konzepte bis ins konzeptuelle Detail hinein von der Sorge um
den Freund motiviert, der sich an einem nicht zugaenglichen Ort auf-
halten musste.
In der ersten Haelfte der 1990er erlebte das _Internet_ eine kurze eu-
phorische Phase. Jeder, der Zugang zu einem Computer und einem
Telefonanschluss hatte, konnte weitgehend unzensiert Botschaften
verschicken und empfangen. #Auf die neuen medialen Netze wurden
politische und kuenstlerische Utopien des freien Austauschs jenseits von
Markt- und Machtstrukturen projiziert.#
Die junge Szene der internatio-
nalen Netzwerker akzeptierte die alten Grenzen der konkurrierenden
Systeme von vornherein nicht. Im Gegenteil, Verbindungen zu den zu-
naechst wenigen frei zugaenglichen und an die internationalen Datenlei-
tungen angeschlossenen Computer in Osteuropa herzustellen, hatte
fuer ihre Aktivitaeten hoechste Prioritaet. Das war Bestaetigung und zu-
gleich Test der demokratischen Potenziale, die man in den nun massen-
haft zugaenglich gemachten telematischen Netzwerken vermutete. Fuer
die Bewohner der groszen Staedte in denjenigen Laendern, in denen die
politischen und oekonomischen Umwandlungen sich unter den Zeichen
des globalen Marktes relativ friedlich vollzogen, wurden sie die schnells-
ten Anschluesse an die Marktplaetze des Westens. Fuer diejenigen, die,
beispielsweise im Kosovo oder in Albanien, unter Krieg und Verfolgung
zu leiden hatten, waren es die einzigen Verbindungen, die der Zensur
nicht ohne weiteres zugaenglich waren. 1996 begann das _Syndicate Net-
work_ als "ein translokales Netzwerk, das auf persoenlichen Beziehungen
beruht und auf einer gesunden Mischung aus Uneinigkeit, Respekt und
Solidaritaet, die jede gute Freundschaft charakterisiert . . . Das #Syndicate#
hat seine Wurzeln in den taktischen Medienverbilnden, die Individuen
und Gruppen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs und unter ihm
hindurch miteinander verbanden, jenseits massenmedialer Aufmerk-
samkeit." [18] Auch diese Verhaeltnisse etablierten sich. Einer der Hoehe-
punkte in den bisherigen Aktivitaeten des _Syndicates_ war der "Deep
Europe Workshop", der 1997 innerhalb der Internet-Plattform der _docu-
menta X_ in Kassel stattfand. 15 der Syndikalisten aus verschiedenen
Laendern West- und Osteuropas diskutierten hier unter den Augen der

313


Weltoeffentlichkeit ihre Vorstellungen eines durch Netzwerke der wech-
selseitigen Achtung verbundenen Mitteleuropas.
Auch die Subszene der vernetzten Medienwelten, fuer die Syndicate
nur ein Beispiel von vielen ist, [19] transformiert sich zu Beginn des
neuen Jahrzehnts. Die Etablierung des World Wide Web als globaler au-
diovisueller Dienstleistungsbetrieb, der alles zu kommerzialisieren ver-
steht, was auf ein massenhaftes Nutzerinteresse stoeszt, inklusive von
Datendienstleistungen am Rande der Illegalitaet, hat die Identitaet eines
hochintelligenten Lumpenproletariats fragwuerdig werden lassen.
Gleichwohl haben die engagierten Initiativen dazu beigetragen, die Op-
tion auf eine nicht hierarchisierte Oeffentlichkeit heterogener Bezie-
hungen auch im Hinblick auf die technisch avancierten Medienwelten
offen zu halten. Es ist kein Scheitern, dass sie nicht zum zentralen Mo-
dell der so genannten Informationsgesellschaft wurde. #Die Oekonomie
der Freundschaft besitzt keine Verallgemeinerungsfaehigkeit. Sie entfal-
tet sich in und quer zu den etablierten Beziehungen und ist in der Regel
nicht von Dauer. Sie muss immer wieder neu eingerichtet werden.#

--------------------------------------------------------------
| Das Problem, eingreifende Medienwelten sich vorstellen,    |
| sie analysieren und schoepferisch entwickeln zu koennen,   |
| besteht weniger darin, einen passenden Rahmen dafuer zu    |
| definieren, als darin, sie sich mit und in der Zeit entwi- |
| ckeln zu lassen.                                           |
--------------------------------------------------------------

Fotografien sind technisch belichtete ausgeschnittene Flaechen mit vi-
suellen Informationen. Der Monitor des Fernsehers, Videos oder Com-
puters hat seinen definierten Rahmen im Verhaeltnis 4:3 oder 16:9; die
Kinoleinwand oder die elektronische Projektion expandieren diese Ver-
haeltnisse lediglich. Beim Betrachten medialer Konstrukte haben wir
uns daran gewoehnt, sie als mehr oder weniger groszzuegig eingerahmte
Bilder anzunehmen. Zumal wenn die Rahmen mit kuenstlerischem An-
spruch gefuellt werden, entstand daraus das Missverstaendnis, dass wir
es bei jeglicher medialer Produktion, die wir audiovisuell wahrnehmen
koennen, vor allem mit der Produktion von Bildern zu tun haben. In

314


Skulpturen eingelassene oder in Museen zu Monumenten gestapelte
Monitore, mit oder ohne Lautsprecher, vertieften das Missverstaendnis,
dem Kunsthistoriker und -kritiker immer noch aufsitzen. Formen pro-
zessualer Kunstpraxis wie das Happening, die Performance oder die
Aktion waren fuer sie schon schwer handhabbar und fristen eine Exis-
tenz ganz am Rand ihrer Aufmerksamkeit.
Soweit es die aesthetischen Disziplinen betrifft, waren die Literatur-
wissenschaften wesentlich frueher zur Oeffnung bereit. Dramatische
Texte, Lautgedichte oder orale Lyrik bewegen sich als mediale Formen
genuin in der Zeit. Gotthold Ephraim Lessings "Laokoon" wurde uns
im Grundstudium am ehemaligen "Institut fuer Sprache im techni-
schen Zeitalter" in Berlin von Friedrich Knilli eingefloeszt wie theoreti-
sche Muttermilch. Unter anderen ueber ihn gewannen wir den Zugang
zur Analyse von Film- und Radiotexten. Auch die Politologie, Soziolo-
gie und Psychologie nahmen mediale Einzelphaenomene und Struktu-
ren frueh in ihren Gegenstandskanon auf Sie sind ebenfalis weniger mit
statischen Objekten im Raum befasst als mit Prozessen, Verhaeltnissen
und Dynamiken. Ganz zu schweigen von den Physiologen, Physikern,
Chemikern oder Medizinern. Medienapparate begleiten ihre Forschun-
gen und Experimente schon seit den Gruenderjahren ihrer Diszi-
plinen. [20] Mischungen, Koppelungen, Rhythmen, Takte, Montagen,
Verlaeufe, Kollisionen gehoeren zu den Grundmodi, mit denen die Wis-
senschaften von den Koerpern im Groszen wie im Kleinen zu tun haben.
Auch deshalb spielen die Musik, der Klang, der Ton in der Medien-
archaeologie eine akzentuierte Rolle. Kuenste, die mit und durch fortge-
schrittene technische Medien operieren, sind Zeitkuenste. Das kann sich
in der Herstellung von Illusionen bewegter Bilder in Form sukzessiver
Fotograflen oder dynamischer graphischer Strukturen aeuszern. Davon
erzaehlen die industriell bespielten Kanaele der Mediendistribution all-
taeglich und ueberreichlich. Aber Bilder in scheinbarer Bewegung sind
nicht mehr als ein Phaenomen von vielen, welche die Kuenste in der Zeit
hervorbringen. Robert Fludd beschaeftigte sich mit dem Aufbau harmo-
nischer Strukturen ebenso wie mit Arithmetik oder meteorologischen
Prozessen. Fuer Kircher waren das Komponieren und das Kombinieren
ebenso wichtige Kunstpraxen wie die Herstellung ueberraschender vi-

315


sueller Effekte. Aber einen wirklichen Paradigmenwechsel auch in der
theoretischen Kunstbetrachtung hat der Physiker und Galvanist Ritter
mit seinem Herunterbuecken auf die Horizontale, in der die Klangkoer-
per mit den Chladni'schen Figuren schwangen, angestoszen. Mit der
Elektrizitaet ist den Medienwelten eine neue Seele eingehaucht worden.
Sie waren fortan nicht mehr primaer statisch zu denken, sie begannen
zu tanzen, zu oszillieren, zu vibrieren, lebendig zu werden. Damit gerie-
ten sie auf einen schluepfrigen Boden. Sie bewegten sich nun in enger
Nachbarschaft zu den Phaenomenen aus dem "Museum des Schlafs"
(Robert Walser), das die Leute Leben nannten. Porta hatte mit seinen
Projektionen des realen Auszenraums in den kuenstlichen Innenraum
der _camera obscura_ schon darauf aufmerksam gemacht. Von nun an be-
fanden sich Beobachter und Teilnehmer medialer Ereignisse in einem
permanenten Realitaetstest. Verschiedene Wirklichkeiten traten fuer die
Wahrnehmung in Konkurrenz zueinander Das erhoehte die Moeglich-
keiten des Genusses, aber auch die Verunsicherungen. Welche der Wel-
ten darf als wahr gelten und welche als unwahr? Ritter mag die Turbu-
lenzen gespuert haben, in die Denken und Wahrnehmen damit gerie-
ten, und definierte die neue einzufordernde Kunstpraxis als Physik. Es
ist noch nicht zu spaet, den Schwingungen in seiner vor 200 Jahren ge-
haltenen Rede aufmerksam zuzuhoeren. Auch und gerade in den mit
aesthetischen Phaenomenen befassten Disziplinen koennten Missver-
staendnisse vermieden werden.
Die Elektrizitaet als Kraft benoetigende Medienwelten und kuenstlich
hergestellte, prozessierte und rhythmisierte Zeit sind Synonyme. Das
Nomadentum der zeitgenoessischen Alchemisten aus den elektroni-
schen Kuensten hat auch logistische und oekonomische Gruende. Sie zie-
hen dorthin, wo sie gut eingerichtete Labore fuer ihre Experimente vor-
finden und wo ihnen Freiraeume angeboten werden, in denen sie ihre
instabilen oder gar fluechtigen Arbeiten voruebergehend installieren und
praesentieren koennen. Einige der exzellenten Kuenstler aus der ersten Ge-
neration, die sich auf die wenig verlaesslichen Techniken einliesz, stam-
men nicht aus der Tradition der bildenden Kuenste. Nam June Paik be-
gann als Musiker und Fluxus-Kuenstler. Steina Vasulka ist eine virtuose
Geigerin und gab groszartige Violinkonzerte, bevor sie sich dem Film,

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dem Video und Koppelungen ihres Geigenspiels mit den elektronischen
Bildwelten zuwandte. Peter Weibel stand neben vielen anderen Iden-
titaeten, die er annahm, als Rockmusiker auf der Buehne und lebt seine
Identitaet als Aktionskuenstler sogar in seinen leitenden Funktionen als
Direktor medienkuenstlerischer Institutionen. Alluquére Roseanne
Stone arbeitete unter anderem fuer die Buehnenshows von Jimi Hendrix,
bevor sie sich der Auffuehrung medienwissenschaftlicher Diskurse wid-
mete. Perry Hoberman konstruierte Projektionen fuer die multimedia-
len Konzerte Laurie Andersons, bevor er seine eigenen komplexen In-
stallationen baute. Auch deswegen haben es solche Kuenstlerinnen und
Kuenstler nicht leicht mit den Ausstellungsorten der traditionellen bil-
denden Kunst. Galerien und Museen tun sich schwer mit ihnen. Sie
kommen eher aus einer Kultur der Konzerthalle, der Clubs, der Tour-
nee, der Strasze als derjenigen der Kontemplation und der Sammlung.

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| Poesien des Kairos in den Medienwelten koennen wirk-       |
| same Mittel gegen die #Enteignungen des Augenblicks# sein. |
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Unter dem Pseudonym Heinrich Regius veroeffentlichte Max Horkhei-
mer 1934 seine "Notizen zu Deutschland". Er nannte sie im Titel "Daem-
merung". Darin findet sich ein kleiner Abschnitt mit der Ueberschrift
"Zeit ist Geld". Es draenge sich "die Frage nach einem Kriterium auf, wie-
viel Geld eine bestimmte Zeit wert ist", schreibt er darin und faehrt fort:

"Ein Arbeiter, der sich ein Automobil mietet, um morgens noch rechtzeitig
zur Arbeitsstaette zu kommen, ist dumm (Vergleich der Fahrtkosten mit sei-
nem Tageslohn), ein Erwerbsloser, der fuenf Mark in der Tasche hat und ein
Auto benutzt, um Zeit zu sparen, ist verrueckt, aber schon ein mittlerer Pro-
kurist wird anfangen, talentlos zu sein, wenn er seine Besuche nicht im Auto
erledigt. Eine Minute im Leben des Erwerbslosen besitzt einen anderen Wert
als eine Minute des Prokuristen ... Zeit ist Geld - aber was ist die Lebenszeit
der meisten Menschen wert? Wenn man sich schon nicht scheut, so allge-
mein daherzureden wie ein Sprichwort, dann ist nicht Zeit Geld, sondern
Geld ist Zeit, ebenso wie es Gesundheit, Glueck, Liebe, Intelligenz, Ehre, Ruhe
ist. Denn es ist ja erlogen, dasz, wer Zeit hat, auch Geld hat, mit bloszer Zeit
kann man sich kein Geld verschaffen, aber umgekehrt." [21]

317


Aus der Erfahrung einer traege verlaufenden Zeit, die den Kreislaeufen
der agrarischen Produktion verbunden war, machte Aleksej Gastev vor
gut acht Jahrzehnten den unverschaemten Vorschlag, Zeitwahrneh-
mung und Zeitpraxis ganz an den Takt dessen anzuschlieszen, was er
das _Maschinische_ nannte. Es ging ihm dabei weniger um eine absolute
Beschleunigung als um eine alternative Strukturierung der Zeit, die
den Arbeitsprozess effektiver machen und dadurch Zeit sparen sollte.
Die Verkoppelung mit dem mechanischen Apparat auf der Basis seines
binaeren Codes fuer Bewegungen wollte die Reibungen zwischen dem
biologischen und dem technischen Koerper eliminieren oder zumindest
auf ein Mindestmasz reduzieren. Eine neue #Souveraenitaet des Einzelnen#
erhoffte er sich aus dem bewussten Akt, dass er sich mit dem ganz An-
deren zu einer neuen Einheit verbaende: der proletarischen Menschma-
schine oder, was in Gastevs Perspektive dasselbe war, dem Maschinen-
menschen. Diese Konstruktion hatte fuer den poetischen Organisator
sowohl utopischen als auch elitaeren Charakter. Er wusste, dass die
Symbiose als Zustand nicht zu erreichen waere, und er nahm selbstbe-
wusst in Kauf, dass nur wenige hoch qualifizierte und flexible Verbin-
dungen von Hand- und Kopfarbeitern sich ihr annaehern koennten.
Auf der Basis des binaeren Codes digitaler Computer sind zu Beginn
des 21. Jahrhunderts Informationen per _bit_ abrechenbar geworden,
ganz gleichgueltig, ob es sich dabei um Zahlenreihen, Bilder, Texte oder
Toene handelt. Die digitale Grundeinheit wird neue abstrakte Waeh-
rung. Als kleinster Techno-Moment ist sie Berechnungsgrundlage fuer
eine Oekonomie der Dienstleistung in Form von Zeichenproduktionen
und Programmen, die tendenziell auch diejenigen Kuenste umschlieszt,
die sich ausschlieszlich durch die vernetzten Medien verwirklichen. Die
Herausbildung solcher Abrechnungsmodalitaeten fuer das Vergnuegen
und die Arbeit verlief parallel mit der Zuspitzung einer massenmedia-
len Tendenz, die Jean-Francois Lyotard in einem seiner fruehen Texte
treffend so umschrieb: "Unsere Kultur zeichnet aus, was sie als einzi-
gen Auftritt, der fuer sie Ereignis ist, in Szene setzt: den Augenblick des
Tauschs, das Unmittelbare, den Knueller, die 'reale' Zeit, die fuer sie die
einzig lebende Zeit ist. Man kann diesen Augenblick, in dem sich die ak-
kumulierte 'tote' Zeit realisiert, obszoen nennen." [22] Die Verfuegbarkeit

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ueber die Zeit als momentaner Entscheidungsfaehigkeit geraet damit von
zwei Seiten unter Druck, als kulturindustrielle obszoene Verdichtung
von Lebenszeit im inszenierten und gefeierten 'Knueller' und als Instal-
lierung eines allgemeinen Zeit- und Oekonomiemaszes, das die mensch-
liche Wahrnehmung unterlaeuft.
Das Zeitverhalten technischer Prozesse ist so beschreibbar: Schon
die Einwirkungsgroeszen wie Beobachtung, Kontrolle und Steuerung
am Eingang eines durch Apparate vermittelten Vorgangs sind zeitab-
haengig. Durch den technischen Prozess werden sie umgeformt. Am
Ausgang eines wie auch immer gestalteten Maschine / Maschine- oder
Mensch / Maschinesystems haben wir es wieder mit zeitabhaengigen Er-
fahrungsgroeszen zu tun. Solche Prozesse kann man auch dynamische
Prozesse nennen. Das mindeste, was Kuenstler und Ingenieure, die in
solchen Prozessen engagiert sind, zu tun haben, ist, dafuer zu sorgen,
dass die Umformung, die im Mittelteil des Prozesses stattfindet, mar-
kante Unterschiede setzt zwischen den Einwirkungsgroeszen am Ein-
gang und den Ergebnisgroeszen am Ausgang. Das waere wirksame Arbeit
an der Schnittstelle, noch einmal: ihre Dramatisierung. #Gestaltete Zeit
muss etwas von der Zeit zurueckgeben koennen, die das Leben den Ein-
zelnen gestohlen hat.#
Das ist einer der schoensten Gedanken Jean-Luc
Godards zum Kino, der sich aber im Hinblick auf die technischen Me-
dienwelten erweitern laesst. Schaffen die Medienaktiven die Transfor-
mation nicht, ist die prozessierte Zeit vergeudete Zeit. Hinter die Faehig-
keiten von Maschinen sollten wir nicht immer wieder zurueckfallen.
"Wir irren des Nachts im Kreis umher und werden vom Feuer ver-
zehrt", so beschrieb der Situationist Guy Debord die Taetigkeit des "Her-
umstreunens", die er gegenueber der "Gesellschaft des Spektakels" als
einzig wuerdevolle empfand. [23] Die ersten bekannten Zeitmesser der al-
ten chinesischen Hochkultur waren labyrinthartig strukturierte, qua-
dratische, laengliche oder runde Metallreliefs. In die Auslassungen
wurde ein langsam zuendendes Pulver gestreut. Das Verbrennen des
Pulvers im Labyrinth zeigte das Vergehen der Zeit an. Debord stellte sei-
nen Koerper und seine Einbildungskraft als Material zur Verfuegung fuer
die Messung der Zeit, in der er lebte. Was waere die Alternative eines
zeitbewussten Handelns gegenueber der situationistischen, sich verzeh-

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renden Identitaet? Theoretisch koennte sie darin bestehen, Feuer zu sein
anstelle des verbrennenden Pulvers. Aber diese Position kann man nur
dann einnehmen, wenn man Gott spielen will, da wir ja Teil des Stoffs
sind, den die Zeit verbraucht. #Was wir tun koennen, ist, in den Rhyth-
mus des Verbrennens, in seine Geschwindigkeit einzugreifen, seine
Intervalle mit zu organisieren. Eingreifende Medienpolitik hiesze in die-
ser Perspektive aktive Sorge um die Souveraenitaet des Verbrauchs von
Zeit und ihrer Organisation. Verlustbereitschaft im Sinne der Verzeh-
rung Debords und der Verschwendung Batailles scheint dabei eine not-
wendige Voraussetzung zu sein.#
#Verlust# ist aber dann keine Kategorie
fataler Oekonomie, wenn es gelingt, ihn als #Bereicherung der Anderen#
wirksam werden zu lassen. Andernfalls wuerde die Verzehrung religioes,
die Verschwendung ideologisch. Und beide Haltungen hatten bereits
verheerende Auswirkungen in der juengeren Geschichte.
Die Bewegung in die Tiefenzeit medientechnischen Denkens und
Operierens hat Protagonisten vorgefuehrt, die in unterschiedlichen his-
torischen Konstellationen zur Transformation von Prozessen beitru-
gen, indem sie vorhandenes Wissen und Kenntnisse buendelten, er-
weiterten, durch ihre Zuspitzungen attraktiv kippen lieszen oder mutig
riskantere Wege eroeffneten als diejenigen, die ihnen durch die etablier-
ten Verhaeltnisse nahe gelegt wurden. In Anlehnung an eine Bezeich-
nung, die Hoelderlin fuer Empedokles erfand, kann man sie auch als Kai-
ros-Piloten bezeichnen. In je besonderer Weise haben sie demonstriert,
dass der guenstige Moment nicht dazu da ist, um etwas fuer uns zu erle-
digen, sondern dass er ergriffen werden muss.
Die aus Philadelphia stammenden und in London lebenden Zwillinge
"The Quay Brothers" inszenieren fuer das Kino und fuer das Theater. Ihre
besondere Leidenschaft gilt der Beseelung von toten Materialien durch
Techniken des Filmtricks. Nichts anderes bedeutet Animation. Mit einer
einzigartigen poetischen Kraft durchstreifen sie in ihren Filmen verges-
sene und verdraengte Orte, vornehmlich des oestlichen Mitteleuropa,
sammeln Schriftzeichen, Schilder, weggeworfene Dinge, Artefakte, die
von einer Resistenz des Alltaeglichen zeugen, Rhythmen und Melodien,
die aus Zeitraeumen zu stammen scheinen, zu denen wir den Zugang
verloren oder uns verstellt haben. Mit einer unvergleichlichen Sensibi-

320


litaet und virtuosen Praezision animieren sie die Fundstuecke und verbin-
den sie mit ihrer Einbildungskraft zu minimalen Orgien augenblick-
licher Sensationen. Eine ihrer Bewegungen fuehrte sie durch das ehe-
mals zu Polen gehoerende Drohobycz. Eines ihrer fruehen Meisterwerke
wurde "Street of Crocodiles" (1985), die eigenwillige filmische Inter-
pretation der Kurzgeschichte "Die Krokodilgasse" aus den "Zimtlaeden"
von Bruno Schulz. Sie ist filmische Kairos-Poesie _par excellence_. Un-
scheinbare Nebenfigur dieses Films ist ein kleiner Junge. In den Hinter-
zimmern der von geheimnisvollen Obsessionen, Mannequins und irrer
Geschaeftigkeit durchdrungenen Laeden der Krokodilgasse sucht er nach
gebautem Material, das seine draengende Neugierde und spielerische
Lust befriedigen koennte. Rostige Schrauben winden sich wie von selbst
aus schmutzbedeckten Bretterbohlen, wirbeln ueber sie hinweg und dre-
hen sich an anderer Stelle wieder elegant in den Boden hinein. Der
Junge stoppt die Bewegung einer der Schrauben, dreht sie gegen den
Uhrzeigersinn aus dem Boden heraus und fuegt sie sorgfaeltig den uebri-
gen lose gesammelten Gegenstaenden hinzu. Eine Figur aus Metallteilen
mit einer trueben Gluehbirne als Kopf reibt eine eiserne Platte, die Glimm-
draehte in der Birne leuchten kurz auf, der Junge faengt den Lichtstrahl
mit einem Taschenspiegel ein und lenkt ihn als Energiebuendel zu einem
mechanischen Affen, der sich dafuer mit einem heftigen, sofort wieder
abbrechenden Trommelwirbel bedankt. Spaeter sieht man den Jungen
mit der metallenen Gluehbirnenfigur an der Seite wieder. Er nimmt sie in
den Arm und stuelpt ihr seine Muetze ueber den glaesernen Kopf

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| #Kuenstlerische Praxis in den Medienwelten ist eine Angele- |
| genheit der Verschwendung. Ihre privilegierten Orte sind    |
| nicht Palaeste, sondern offene Laboratorien.#
              |
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Medienkunst ist ein seltsames Mixtum compositum. Einerseits bezeich-
net die Verbindung nahe beieinander Liegendes. Jede kuenstlerische
Praxis benoetigt Medien, um fuer andere sinnlich erfahrbar zu werden.
Aber Medienkunst ist in den letzten Jahrzehnten auch als ein spezifi-
sches Konzept kultureller Praxis entwickelt worden. In dieser Perspek-

321


tive enthaelt das Mixtum compositum weit auseinander Klaffendes. Es
versucht zwei verschiedene Welten in einer zusammenzufuegen. Diese
Verkoppelung hat in ihrem Ursprung auch strategischen Charakter,
weniger fuer die Medien als fuer die Kunst. Aehnlich wie zuvor schon bei
der _Filmkunst_ oder der _Videokunst_ sollte das Praefix den damit verbunde-
nen neuen kuenstlerischen Praxen einerseits eine originelle Absetzung
von den traditionellen ermoeglichen, andererseits beinhaltete die Ver-
bindung mit der Kunst den Anspruch auf Teilhabe an einem historisch
gewordenen Markt, an profilierten Verhaeltnissen der Distribution und
des Diskurses. Der strategische Begriff der Medienkunst spitzte dies in-
sofern noch zu, als das Praefix _Medien_ spaetestens seit Mitter der 1980er
auf eine hohe politische und oekonomische Akzeptanz hoffen durfte.
Die Gestaltbarkeit des Zukuenftigen wurde fest an die Medien gebunden.
Das war zugleich einer der Gruende, warum die Ablehnung in den tradi-
tionellen Institutionen der Kunst viel heftiger ausfiel als bei den vorher-
gehenden medialen Konzepten.
Die _Medien_ stehen in der Mischung fuer eine Reihe von Paradigmen,
die nicht selbstverstaendlich mit der Kunst verbunden werden. Dazu ge-
hoert das Gebot zum grenzenlos Populaeren. Die technischen Medien des
ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts adressierten nicht mehr die
geschlossenen Benutzerkreise gesellschaftlicher Elitegruppen, sondern
die Moeglichkeit, sozial, regional und national nicht spezifische Publika
zu erreichen. Das Telefon, die Telegraphie, das Kino, Radio und Fern-
sehen, Videorecorder oder _compact discs_ entstanden als Kulturtechni-
ken, die weltweit funktionieren sollten. Die Tendenz zur Ueberschreitung
jeglicher Grenzen ist ihnen als Auftrag eingeschrieben. Die telemati-
schen Medien verstaerkten diese Tendenz noch einmal. Diejenigen, die
sie benutzen, identifizieren sich selbst nicht mehr nur als Zuschauer
und Zuhoerer. Vielmehr wurden sie Teilnehmer in einer globalen Veran-
staltung, Mitspieler in einem Zusammenhang der Interaktion, den wir
Kommunikation zu nennen gelernt haben. In dieser Welt haben wir es
nicht mehr nur mit vereinzelten technischen Artefakten zu tun, son-
dern mit zusammengesetzten technischen Sachsystemen und, in einem
genaueren Sinn des Wortes, mit Technologie. #Es geht nicht mehr ledig-
lich um einzelne Vergegenstaendlichungen und Artikulationsformen#

322


#von Technik, sondern um ein Gefuege, das auch die technischen Faehig-
keiten, die Ausbildung von Ingenieuren und Informatikern, die Politik
und Oekonomie der Technik, ihre sozialen wie kulturellen Bedeutun-
gen und selbstverstaendlich auch die Wissenschaften und Kuenste mit
ihren Institutionen umfasst.#
Technologie ist in besonderer Weise mit
dem verbunden, was man Fortschritt nennt, und insofern auch mit der
Macht. Auf dem derzeitigen Niveau stehen der Computer und weltum-
spannende Datenleitungen mit ihren Knotenpunkten im Mittelpunkt.
Sowohl die einzelne Maschine zur Verarbeitung, Speicherung und
Aussendung von Daten als auch ihre weltweiten Verbindungen sind
Systeme der Berechnung. Es sind Systeme in der Tradition der Me-
chanik, auch wenn sie mit noch so hochleistungsfaehiger Elektronik
und Programmen arbeiten. Denn mechanische Systeme zeichnen sich
dadurch aus, dass die in ihnen ablaufenden Prozesse formalisierbar
sind - ganz gleich, ob es sich um analoge oder digitale Vorgaenge han-
delt. [24]
Auch die kuenstlerische Praxis besitzt in verschiedenen Ausprae-
gungen formalisierbare Dimensionen. Diese sind erlernbar und lehr-
bar. Man kann sie in Sprache ausdruecken und in anderen Zeichenfor-
mationen mit hohem Ordnungscharakter. Man kann sie strategisch
entwickeln und erproben. Insofern kann man vom kuenstlerischen Ex-
periment sprechen. Deshalb kann ein Atelier mit vorwiegend technolo-
gischer Ausstattung und Ausrichtung auch Laboratorium genannt
werden. In einem Laboratorium wird geforscht, entwickelt, getestet,
verworfen und gewonnen. Solche Taetigkeiten haben mit einer Eigenart
kuenstlerischer Praxis zu tun, die sie mit den Naturwissenschaften und
der Industrie teilt. Nur hat sie fuer die Kunst ungleich groeszeres Gewicht,
fuer viele macht sie sogar Kunst erst aus: die Intuition, die Anschauung.
Sie ist eng verbunden mit der wichtigsten Energiequelle kuenstlerischer
Praxis, naemlich der Einbildungskraft. Formalisierbarkeit und Berech-
nung einerseits, #Intuition# und Einbildungskraft andererseits bilden die
Pole des Mixtum compositums Medienkunst mit Blick auf die Taetigkei-
ten des Subjekts. Sie als Pole einer von beiden Seiten bespielbaren Skala
zu betrachten, ist eine Alternative zum Dualismus als bequemer Denk-
weise, die fatal wird, wenn man auf ihm verharrt.

323


Das Feld dessen, was noch als Medienkunst bezeichnet wird, ist ein
Uebungsplatz fuer Mischungen von Heterogenem. Es ist somit auch ein
chaotischer Ort, begreift man Chaos als jenen dynamischen Zu-
sammenhang von Manchfaltigem [25], von Zufall und Notwendigkeit,
der ohne weiteres nicht ueberschaubar ist und aus dem die fuer uns ver-
stehbaren Phaenomene und Prozesse hervorgehen. So zumindest ha-
ben die ersten Schnittstellen-Heuristiker vom 5. bis zum 3. Jahrhun-
dert vor unserer Zeit, Anaxagoras, Empedokles, Demokrit und Epikur,
das Chaos verstanden. Warum sollten wir hinter sie zurueckfallen?
Die kuenstlerische Besetzung von Medienwelten benoetigt Orte, an de-
nen das so verstandene Chaos gepflegt wird, an denen die Taetigkeiten
der Mischung und der Entmischung, des Zerlegens und Zusammenfue-
gens als zu foerdernde Aktivitaeten verstanden werden. In der Zeit der
europaeischen Vormoderne nannte man solche Orte #alchemistische La-
bore#
. Nur reiche Fuersten, Koeniginnen oder Kaiser konnten sie sich leis-
ten, in Prag zum Beispiel, in London oder, unter der Obhut des Vati-
kans, in Rom. Sie luden die ungewoehnlichsten Geister ungeachtet ihrer
Herkunft ein, damit sie aus der Naehe teilhaben konnten an der Arbeit
am Unmoeglichen. Denn der lange Weg von der Teilung der _prima mate-
ria_ ueber die verschiedenen Mischungsverhaeltnisse zur _Projektion_, der
letzten Stufe des alchemistischen Prozesses, in dem die Verwandlung
des Gemeinen ins Edle stattfinden sollte, war nichts anderes als der Ver-
such, Unmoegliches moeglicher zu machen. Diese Orte waren nicht von
Dauer. Sie zeugten nicht von derselben Ewigkeit wie die Saeulenhallen
der Akademien oder Universitaeten. Es waren Orte der Passage, der
Ueberraschung, des Aufbruchs und des Abbruchs, der Zuflucht. Ging
den Regenten das Geld aus oder entpuppten sich die eingeladenen Zau-
berlehrlinge als Scharlatane und nichtsnutzige Betrueger, wurde ihnen
schon einmal ein Ohr abgeschnitten, landeten sie im Kerker oder wur-
den im besten Fall einfach zurueck auf die unsichere Strasze geschickt,
von der aus sie den naechsten laboratoriellen Ort ansteuerten, der
ihnen guenstige Aufnahme zu gewaehren versprach.
Die Bedingungen fuer die zeitgenoessischen Labore experimenteller Er-
forschung von Medienwelten in Berlin, Karlsruhe oder Koeln, im japa-
nischen Ogaki-shi oder in Barcelona, in Budapest oder Moskau haben

324


sich geaendert, nicht aber die prinzipiellen Beweggruende fuer ihre Ein-
richtung oder ihren Ausbau. Hinter den modernen, gut ausgestatteten
Entwicklungsstaetten der Gegenwart stecken vonseiten der Einrichter
die Hoffnung und die Strategie, dass es den zeitgenoessischen Zauber-
lehrlingen, den Ingenieuren, Programmierern und Kuenstlern gelingen
moege, aus dem Digitalen Gold werden zu lassen. Einmal etabliert, ent-
wickelten die Institute allerdings ihre eigene Dynamik. Ihr Personal
liesz sich nicht einfach zur ergonomischen Gestaltung dessen benut-
zen, was die Politik Zukunft der Informationsgesellschaft nannte.
Wenn die Bewegungsspielraeume fuer das Sperrige, das nicht ohne wei-
teres Hineinpassende, das Fremde geringer werden, kommt es auf den
Versuch an, #das Moegliche mit seinen eigenen Unmoeglichkeiten zu kon-
frontieren
# und es damit aufregender und lebenswerter zu machen. Mit
eigenwilligen Projekten operativer Netzpraxis, der Erkundung neuer
Formen kinematographischen oder videographischen Erzaehlens, der
Oeffnung experimenteller akustischer Raeume, der Verschiebung des
Kuenstlerischen in die Maschinen hinein bis zur Grenze des Ertraeg-
lichen, der Ergruendung von Apparaten, nach denen niemand fragte, oder
der Verbindung performanter Praxen, fuer die es noch keine Buehnen
gab, traten sie in Verhaeltnisse der Reibung und der Spannung zu ihrem
Auftrag. Dass dieser in der Regel nicht explizit formuliert worden ist,
macht ihren Bewegungsspielraum aus. Wirklich fehlschlagen kann
der Versuch nicht. Das Scheitern war schon den Alchemisten nicht
fremd. Nicht etwa, weil sie besondere Lust an dieser Qualitaet von Erfah-
rung gehabt haetten, sondern weil die Projekte, die sie sich immer wie-
der aufs Neue vornahmen, grosz genug waren, damit das Scheitern in
Wuerde stattfinden konnte.
#Der franzoesische Maler Pierre Klossowski, der mit seiner Trilogie zu den
Gesetzen der Gastfreundschaft auch als philosophischer Schrift-
steller beruehmt wurde, schrieb um 1970 eine bemerkenswerte Oekono-
mie, die erst in den 1990ern veroeffentlicht wurde. Darin offeriert er
eine Aufloesung fuer den im Mixtum compositum enthaltenen Konflikt.
Er kehrt die Klage der Kulturpessimisten von der Kapitalisierung und
damit auch der Mechanisierung der Koerper um, indem er den mensch-
liehen Leib als Tauschobjekt, als "lebende Muenze" ins Spiel bringt. Be-
#

325


#freit von den unmittelbaren und zielgerichteten Zwaengen der Repro-
duktion, koenne der so konzipierte Koerper zum souveraen Handelnden
werden. Dem Experiment spricht Klossowski in seiner Oekonomie eine
besondere Bedeutung zu. Die Geraetefabrikation werde immer wieder
mit ihrer "zeitweiligen Unfruchtbarkeit" konfrontiert. Diese trete "um
so deutlicher hervor, als der beschleunigte Rhythmus der Fabrikation
unablaessig dazu zwingt, der Ineffizienz (in den Produkten) vorzubeu-
gen - wogegen ihr keine andere Zuflucht zu Gebote steht als die Ver-
schwendung. Das Experiment, das der Effizienz als Bedingung voraus-
geht, setzt den verschwenderischen Irrtum voraus. Experimentell zu
erproben, was im Blick auf eine rentable Operation herstellbar ist, laeuft
darauf hinaus, das Risiko der Unfruchtbarkeit des Produkts zu elimi-
nieren, um den Preis der Verschwendung von Material und mensch-
licher Kraft (Herstellungskosten).#
[26]
Die an-archaeologische Suchbewegung ist auch als ein Plaedoyer da-
fuer zu verstehen, die Orte offen zu lassen, die Gastfreundschaften fuer
das Experiment gewaehren, und moeglicherweise noch mehr davon ein-
zurichten. Die Grundlage dafuer, dass sie funktionieren koennen, sind
nicht nur groszzuegige Gastgeber, fuer die Verschwendung im Kuenstleri-
schen kein Versagen ist, sondern Zeichen von Souveraenitaet und Staerke.
Das Plaedoyer enthaelt allerdings auch die Forderung nach solchen Gaes-
ten, fuer die kuenstlerische Praxis mit und in den Medienwelten mehr ist
als nur die geschickt verpackte Bestaetigung dessen, was wir ohnehin
bereits kennen, was uns langweilt und was der Harmonisierung des
noch nicht Harmonisierten sowie der Bequemlichkeit dient: nach Gaes-
ten, die die Einladung zum Experiment als eine Aufforderung begrei-
fen, an der Unmoeglichkeit der perfekten Schnittstelle des Empedokles
von Agrigent weiterzuarbeiten. Unter diesem Gesichtspunkt machte
sogar die Rede von der virtuellen Welt Sinn. Die Bereitschaft zur eige-
nen Verschwendung ist das Geringste, das diese Oekonomie den Gaesten
abverlangen sollte. Darin steckt auch der Trick ihres Funktionierens.
Kuenstlerische Praxis im _Internet_ ist ueberfluessig. Diejenigen, die sie
sich leisten koennen, verdienen ihr Auskommen _off-line_ oder mit einer
zweiten, nicht kuenstlerischen Identitaet in Form einer produktiven Ar-
beit im Netz. Auch die Etablierung des frei zugaenglichen Betriebssys-

326


tems Linux als Alternative zum industriellen _Microsoft_ folgte ursprueng-
lich der Logik einer solchen Oekonomie. Diejenigen, welche die Be-
triebssoftware kontinuierlich fuer alle Netzbenutzer erweiterten und
verbesserten, taten das in ihrer Restzeit, neben ihrer Arbeit als ver-
sorgte Akademiker oder gut bezahlte Programmierer. Fuer die Genera-
tionen von Kuenstlern, die ihre Arbeiten ausschlieszlich als prozessuale
fluechtige Medienwelten realisieren, verschaerft sich die Situation noch
betraechtlich. Olla Lialina aus Moskau kommt vom Schreiben und vom
experimentellen Film. Von ihren filigranen und engagierten Arbeiten
im Netz kann sie nicht leben, obwohl sie mittlerweile weltweit als
Kuenstlerin geachtet ist. Das Gleiche trifft fuer viele andere zu, fuer ihren
Landsmann Alexej Shulgin, den Belgrader Vuk Cosic oder den Erfinder
der _poetry machine_, David Link. Sie leben in Doppelexistenzen zwischen
solider Arbeit zum Broterwerb und der Erfindung eingreifender kuenst-
lerischer Dynamiken fuer die weltumspannenden Datennetze der Infor-
mation und Kommunikation oder von deren Praesentation auf interna-
tionalen Foren. Der Texaner #Bruce Sterling brachte es 2001 waehrend
einer Diskussion in Koeln auf den Punkt, indem er sagte, er koennte
die Zeit und Kraft fuer seine Projekte im Internet nur deshalb investie-
ren, weil der weltweite Verkauf seiner Science-Fiction-Buecher ihm die
Existenzgrundlage dafuer verschaffte. Als verschwenderische Taetigkeit
koennte die kuenstlerische Praxis auch in den Netzen eine glaenzende Zu-
kunft haben.
#


Anhang

7. Schlussthesen

[1] So heiszt ein legendaeres Buch Gene Youngbloods von 1971 aus den Anfaen-
gen der kuenstlerischen Verwendung von Computern fuer den Film.
[2] Schulz in einem Brief an Stanislaw-Ignacy Witkiewicz, in: Schulz 1967,
Bd. 2,92.
[3] Der Briefwechsel ist enthalten in: Schulz 1967.
[4] Alle Zitate aus: a.a.O., 17-24.
[5] 2001 entdeckte der Schriftsteller Christian Geissler in Drohobycz die Reste
der Wandmalereien wieder, die Schulz im Kinderzimmer des Sohns des SS-
Offiziers anfertigen musste. Durch die Veroeffentlichung des spektakulaeren
Funds wurde etwas aktuell, was ueber Jahrzehnte durch Schichten der Ver-
draengung und des Vergessens unsichtbar geblieben war. Durch das Droho-
bycz des Bruno Schulz zogen sich Linien der groszen weiten Welt der Kunst,
der Wissenschaft und der Medien. Der Poet Geissler aus dem hohen Norden
Deutschlands ist nur einer von vielen. Der Filmemacher Peter Lilienthal

355


wurde genauso durch Schulz inspiriert wie der Kunsttheoretiker John Ber-
ger oder die Regisseure "The Quay Brothers".
[6] Diese These vertritt auch Lynn Thorodike. Cassirer bezieht sich hier jedoch
auf die Arbeiten James George Frazers aus den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts, die dieser unter dem Titel "The Golden Bough" (gekuerzte
Ausgabe dt. Der goldene Zweig. Reinbek 1998) veroeffentlichte.
[7] Cassirer 1930, 31.
[8] Ebenda.
[9] Als ersten Ansatz dazu vgl. Roeller/Zielinski 2001, 282-286.
[10] Vgl. ausfuehrlicher: Zielinski 2001, 8-27.
[11] Vgl. zu seiner und Eva Svankmajers kuenstlerischer Arbeit den ausgezeich-
neten Katalog Svankmajer 1997.
[12] Zur Videoentwicklung in Osteuropa vgl. Milev 1993.
[13] Hulten 1968.
[14] Das Buch zur Ausstellung erschien drei Jahre spaeter: Reichardt 1971.
[15] The Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles, Vol. II. Ox-
ford University Press 1993, 1946.
[16] Marc Adrian: "syspot", in: Kelemen/Putar 1971, 167.
[17] "Post-industriell" ist hier nicht im Sinne einer Nach-Zeit zu verstehen,
denn das oekonomische Zentrum ist nach wie vor industriell basiert. Ich be-
nutze den Begriff im Sinne Jean-Luc Godards, der damit gern auf die Hege-
monie der Post bzw. der Gesellschaften der Telekommunikation fuer die Dis-
tribution von Bildern und Toenen nach dem Zweiten Weltkrieg verweist.
[18] Vgl. den Beitrag Andreas Broeckmanns, "Gesichtswechsel oder: protobal-
kanische Entidentifizierungen", in: Kovats 2000, 364-372, Zitat 368.
[19] Einen guten Ueberblick enthaelt das Medienpaket "Readme! "‚ hg. v. nettime,
Autonomedla 1999.
[20] Auffaellig in der Tiefenzeit der Medien ist der hohe Anteil von professionel-
len Aerzten. Eine Geschichte des Wechselverhaeltnisses von Medizin und Me-
dien ist meines Wissens noch nicht geschrieben worden.
[21] Horkheimer 1934, 28.
[22] Deutsche Uebersetzung in: Lyotard 1987, 40.
[23] Debord 1978, das Anfangszitat ist zugleich der Titel von Debords letztem
Film vor seinem Testament (vgl. Debord 1985).
[24] Vgl. dazu hervorragend: Taube 1966.
[25] Lorenz Oken (3. Aufl. 1843) benutzt dieses schoene Wort zur Bezeichnung
von Verschiedenartigem.
[26] Klossowski 1998, l0f.

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Literatur

Cassirer, Ernst: Form und Technik. 1930.
Debord, Guy: In girum imus nocte et consumimur igni. Wir irren des Nachts im
Kreis umher und werden vom Feuer verzehrt. Berlin: Tiamat, 1985.
(Horkheimer, Max) Heinrich Regius: Daemmerung. Notizen in Deutschland. Zue-
rich: Oprecht & Helbing, 1934.
Hulten, K. G. Pontus: The machine - As Seen at the End of the Mechanical Age.
New York: Museum of Modern Art, 1968.
Kelemen, Boris, Radoslav Putar: dijalog sa strojem/dialogue with the machine.
Zagreb: bit international, galerije grada, 1971.
Klossowsky, Pierre: Die lebende Muenze (uebers. v. Martin Burckhardt). Berlin:
Kadmos, 1998.
Kovats, Stephen (Hg.): Ost-West Internet/media Revolution. Frankurt/M.:
Campus, 2000.
Lyotard, Jean-Francois: Zeit haben. In: Aesthetik & Kommunikation Nr. 67 / 68,
1987, 40.
Milev, Rossen: Video in Osteuropa. Sofia: Balkan Media, 1993.
Oken, Lorenz: Lehrbuch der Naturphilosophie. Zuerich: Friedrich Schulthesz,
3. Aufl.. 1843, Erstaufl. 1810/11.
Reichardt, Jasia: The Computer in Art. London: Studio Vista, Van Nostrand
Reinhold, 1971.
Roeller/Zielinski 2001 [Literaturangaben?]
Schulz, Bruno: Die Republik der Traeume. Fragmente, Aufsaetze, Briefe, Grafiken (hg.
v. Mikolaj Dutsch, uebers. v. Josef Hahn u. Mikolaj Dutsch). Muenchen: Han-
ser, 1967.
Svankmajer, Eva/Jan: Anima - Animus - Animation. Prag: Slovart, Arbor Vi-
tae Found., 1998 [1997 ?]
Taube, Mortimer: Der Mythos der Denkmaschine. Kritische Betrachtungen zur
Kybernetik. Reinbeck: rowohlts deutsche enzyklopaedie, 1966."

_____
Quellen:
Pierre Bourdieu. _Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft_. Frankfurt am Main: suhrkamp, 1987.
Juergen Habermas. "Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschoepfung utopischer Energien". in: _Die Neue Unuebersichtlichkeit_. Frankfurt am Main: suhrkamp, 1985. S. 141-163 .


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Last modified: Mi., 02.02.2005 14:14